2009 - Goldene Türme, grüne Dschungel, graue Vergangenheit. Kambodscha ist ein Land voller Gegensätze. Zwischen den Tempeln von Angkor, dem Chaos von Phnom Penh und den Spuren der Roten Khmer liegen Jahrhunderte von Glanz und Grauen. Und doch gelingt es diesem Land, beides zu vereinen: Schönheit und Schmerz, Leichtigkeit und Last – mit einem Lächeln, das bleibt.

„Only 10 Dollars Extra“

Einreise

Von Bangkok nach Siem Reap – das sollte eigentlich ganz einfach werden. In meiner Herberge wurde mir ein Minibus-Transfer angeboten: bequem, direkt, klimatisiert – und das Ganze für nur 18 Dollar. Abholung vom Hostel inklusive. Klang gut, also buchte ich. Schließlich wollte ich mir das übliche Reisechaos mit Tuk-Tuks, Zügen und Grenzformalien ersparen.

Doch wie so oft in Südostasien kam es anders, als gedacht. Der Minibus fuhr nur bis zur Grenze, dort hieß es: alle aussteigen, zu Fuß weiter. Ein kurzer Marsch durch den Zoll, ein paar Formulare, ein paar Dollar „Gebühr“ – und schon war ich offiziell in Kambodscha. Nur der versprochene Bus war nirgends zu sehen.e

Ein freundlicher Mann erklärte mir, der Bus würde „in drei Stunden“ fahren – oder ich könne natürlich direkt ein Taxi nehmen. „Only 10 dollars extra“, lächelte er. Ich wusste, dass das nach Abzocke roch, aber ehrlich gesagt: Nach stundenlangem Warten stand mir der Sinn nicht nach Prinzipien. Also stieg ich ein.

Das Taxi war alt, laut und voll, aber immerhin kam ich irgendwann an. Später erzählten mir andere Reisende, dass ihr Bus fast gleichzeitig angekommen sei – für den halben Preis.
Tja, willkommen in Kambodscha. Nichts läuft wie geplant, aber irgendwie ist es genau das, was Reisen so unterhaltsam macht.

Wasserbüffel in Kambodscha

Wie Indiana Jones zu seinen besten Zeiten

Siem Reap

Nach der staubigen Anreise wirkt Siem Reap wie eine kleine Oase – quirlig, freundlich, ein bisschen chaotisch, aber auf sympathische Weise. Tuk-Tuks knattern durch die Straßen, an jeder Ecke duftet es nach gebratenem Fleisch, und zwischen Touristen in Flipflops schlendern Mönche in orangefarbenen Roben. Hier beginnt das Tor zu einem der faszinierendsten Orte Asiens: Angkor, die einstige Hauptstadt des mächtigen Khmer-Reichs.

Zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert herrschen die Khmer über weite Teile Südostasiens. Ihre Baukunst ist legendär: kilometerlange Wasserkanäle, präzise Symmetrie, gigantische Tempelanlagen – alles mitten im Dschungel. Als das Reich zerfällt, erobert die Natur zurück, was der Mensch geschaffen hat. Heute stehen die Tempel von Angkor als steingewordene Erinnerung an eine der beeindruckendsten Hochkulturen der Geschichte.

Mein erster Tag gehört dem Klassiker: Angkor Wat. Dieses Bauwerk ist nicht nur das Wahrzeichen Kambodschas, sondern bis heute das größte religiöse Monument der Welt. König Suryavarman II. lässt es im 12. Jahrhundert zu Ehren Vishnus errichten – ein Symbol göttlicher Macht und vollkommener Ordnung.

Von weitem wirken die fünf Türme wie Lotusblüten, die in den Himmel wachsen. Näher betrachtet zeigen die Reliefs unzählige Szenen aus der hinduistischen Mythologie: Kriege, Tänzerinnen, Dämonen und Götter – Stein wird hier zu Geschichte.

Danach führt mein Weg zu Bayon, dem Tempel der Gesichter. Über 200 riesige, lächelnde Steingesichter blicken in alle Richtungen – ruhig, wissend, fast ironisch. Man sagt, sie zeigen König Jayavarman VII. selbst, der diesen Tempel im späten 12. Jahrhundert errichten lässt. Bescheidenheit ist offenbar nicht seine Stärke, aber Stil hat er.

Wenig später stehe ich auf der Terrasse der Elefanten, einst Bühne für königliche Paraden und Feste. Die langen Reliefwände sind mit Elefanten, Reitern und mythischen Wesen geschmückt – steinerne Zeugen vergangener Größe.

Mein persönliches Highlight ist Ta Prohm, der Tempel, den sich der Dschungel zurückholt. Riesige Würgefeigen umschlingen Mauern und Türme, ihre Wurzeln krallen sich in den Stein wie Finger. Zwischen geborstenen Säulen fällt Sonnenlicht auf moosgrüne Mauern, irgendwo ruft ein Vogel – und für einen Moment wirkt alles, als wäre man in einer anderen Zeit. Kein Wunder, dass Hollywood hier Tomb Raider gedreht hat.

Am zweiten Tag schwinge ich mich aufs Fahrrad. Es quietscht, wackelt, aber funktioniert – und es ist der beste Weg, Angkor wirklich zu spüren. Ich radele über rote Sandwege, vorbei an Reisfeldern, Palmen und Wassergräben. Kinder winken, Kühe dösen im Schatten, und zwischen den Bäumen tauchen immer wieder neue Tempel auf – manche bekannt, andere halb vergessen.

Ich halte, wo es mir gefällt, klettere auf Mauern, schaue über die weiten Ebenen und genieße die Stille. Angkor auf dem Rad – das ist kein Sightseeing, das ist Zeitreise.

Chaos und Kakerlaken

Phnom Penh

Nach den stillen Tempeln von Angkor fühlt sich Phnom Penh wie ein Sprung in ein anderes Universum an. Die Hauptstadt vibriert. Mopeds schießen kreuz und quer, Straßenhändler brüllen ihre Angebote, und der Geruch von gebratenem Fleisch, Benzin und Jasmin liegt in der warmen Luft. Zwischen alten Kolonialbauten drängen sich neue Hochhäuser, auf den Bürgersteigen wird gekocht, gehandelt und gelacht.

Die Stadt liegt dort, wo MekongTonle Sap und Bassac zusammentreffen – ein symbolischer Ort, an dem alles in Bewegung bleibt. Rund zwei Millionen Menschen leben hier, und obwohl Phnom Penh offiziell Hauptstadt ist, wirkt sie oft wie ein großes, chaotisches Dorf.

Der Legende nach beginnt alles mit einer Frau namens Doun Penh, die im 14. Jahrhundert vier Buddha-Statuen im Fluss findet und auf einem Hügel einen Schrein errichtet – den heutigen Wat Phnom. Von hier wächst über Jahrhunderte eine Stadt, die im 19. Jahrhundert unter französischer Herrschaft zur „Perle Asiens“ wird. Breite Boulevards, Villen, Balkone mit schmiedeeisernen Gittern – Überbleibsel einer Zeit, in der Phnom Penh elegant und weltläufig ist. Heute kämpft sie mit Lärm, Staub und Improvisation – und genau das macht sie so faszinierend.

Ich bin zufällig zum Water Festival hier, einem dreitägigen Volksfest, bei dem auf dem Tonle Sap riesige Langboote mit bis zu 40 Mann gegeneinander antreten. Ganz Kambodscha scheint auf den Beinen zu sein. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Überall dröhnen Trommeln, Kinder jubeln, Musik schallt aus Lautsprechern. Es ist laut, bunt und ein bisschen verrückt – aber ansteckend fröhlich.

Zwischen den Booten und Marktständen drängen sich Straßenverkäuferinnen, die alles anbieten, was sich verkaufen lässt: kalte Getränke, Souvenirs, Bücher, Armbänder, Insekten. Die Konkurrenz ist groß, die Methoden kreativ.

Ein etwa achtjähriges Mädchen spricht mich in perfektem Englisch an. Sie will mir ein Buch verkaufen – und fragt mich, ob ich etwas kaufe, wenn sie mir sagen kann, wie Deutschlands Hauptstadt heißt, wer die Kanzlerin ist, wie viele Menschen dort leben und wann der Nationalfeiertag ist. Ich bin beeindruckt. Sie kann alles korrekt beantworten. Natürlich kaufe ich.

Nach dem Trubel gönne ich mir ein paar ruhigere Stunden: zwei Tage am Pool, eine Khmer-Massage, die mehr nach Chiropraktik aussieht als nach Wellness. Eine winzige Masseurin klettert auf mir herum, hakt sich ein, dreht mich mit einem Ruck durch die Luft – und bringt dabei jeden Knochen zum Knacken. Es klingt brutal, fühlt sich aber großartig an.

Beim Essen zeigt sich Phnom Penh dann von seiner ganz eigenen Seite. Auf den Märkten landet wirklich alles auf dem Grill, was Beine, Flügel oder Fühler hat. Ob SchlangeHeuschreckeKakerlake oder Küken – frittiert, gewürzt und mit einem Lächeln serviert. Hier ist Neugier Pflicht und Zartbesaitung keine Option.

In einem Restaurant beobachte ich eine besonders gut genährte Ratte, wie sie seelenruhig zwischen den Gästen entlangläuft, an den Stühlen vorbeihuscht und in der Küche verschwindet – niemand reagiert. Nur ich. Später, im Zimmer, entdecke ich meine erste Kakerlake – und gewinne. Mit gezieltem Schlag.

Phnom Penh ist anstrengend, wild und widersprüchlich – aber genau deshalb faszinierend. Eine Stadt, die ständig zwischen Verfall und Aufbruch pendelt. Und obwohl sie auf den ersten Blick chaotisch wirkt, steckt in ihr dieses warme, herzliche Lebensgefühl, das man nicht vergisst.

Auf den Spuren der Roten Khmer

Phnom Penh

Doch über all dem Lärm und Lächeln liegt ein Schatten, der sich nicht vertreiben lässt. Zwischen 1975 und 1979 regiert Pol Pot das Land – ein ehemaliger Lehrer, der aus Kambodscha ein kommunistisches Agrarparadies machen will. Seine Bewegung, die Roten Khmer, verspricht Gleichheit und Reinheit – und stürzt das Land in den Abgrund.

Am 17. April 1975 marschieren die Roten Khmer in Phnom Penh ein. Die Menschen jubeln – der Krieg scheint vorbei. Doch innerhalb weniger Stunden beginnt die Katastrophe. Pol Pot ruft das „Jahr Null“ aus. Alles soll von vorn beginnen: keine Religion, kein Geld, keine Städte, keine Bildung. Die gesamte Bevölkerung Phnom Penhs – über zwei Millionen Menschen – muss die Stadt verlassen. Alte, Kranke, Kinder, Schwangere – alle werden unter Waffen aus ihren Häusern getrieben, zu Fuß aufs Land.

Wer lesen kann, wer Brillen trägt, wer Lehrer ist oder einfach „zu klug“ wirkt, gilt als Feind. Familien werden getrennt, Tempel zerstört, Bücher verbrannt. Auf den Reisfeldern schuften die Menschen bis zur Erschöpfung, viele verhungern, noch mehr werden ermordet. In nur vier Jahren sterben etwa zwei Millionen Kambodschaner – ein Viertel der Bevölkerung.

Mitten in Phnom Penh steht heute ein stiller Zeuge dieses Grauens: das ehemalige Schulgebäude Tuol Sleng, besser bekannt als S-21. Früher lernen hier Kinder lesen und schreiben, jetzt verwandeln die Roten Khmer die Klassenzimmer in Zellen und Folterkammern. Metallbetten, Fußfesseln, Wasserbecken – alles ist noch da. Auf den vergilbten Fliesen sieht man noch Flecken, die keine Farbe sind.

Mehr als 14.000 Menschen werden hier eingesperrt, verhört und gefoltert. Kaum jemand überlebt. Die „Geständnisse“ dienen nur dazu, weitere Namen zu nennen – eine endlose Spirale der Angst. Die Methoden sind grausam: Elektroschocks, Ertränken, das Herausreißen von Fingernägeln. Weil Munition zu wertvoll ist, werden viele Opfer mit Stöcken erschlagen.

Heute hängen in Tuol Sleng tausende Schwarzweißfotos der Gefangenen – Männer, Frauen, Kinder. Sie blicken still aus der Vergangenheit: verängstigt, erschöpft, würdevoll. Diese Gesichter vergisst man nicht.

Etwa 15 Kilometer außerhalb der Stadt liegen die Killing Fields von Choeung Ek. Hier enden die Wege der meisten Gefangenen. Zwischen Reisfeldern und Bananenbäumen markieren kleine Schilder die Stellen der Massengräber. In einer gläsernen Stupa sind Schädel der Opfer aufgeschichtet – still, weiß, anonym. Schmetterlinge flattern über die Wiesen, Kinder lachen in der Ferne, und genau dieser Kontrast macht den Ort so unfassbar.

Phnom Penh lebt weiter, aber es trägt seine Narben offen. Die Stadt vergisst nicht – sie verwandelt Schmerz in Stärke. Am Abend, wenn die Sonne über dem Mekong versinkt, sitzen Familien an der Promenade, trinken Eistee, reden, lachen. Ich schaue ihnen zu und denke daran, dass dieses Land schon so oft gefallen ist – und immer wieder aufsteht.
Vielleicht ist genau das Kambodscha: ein Land, das nicht aufgibt, egal wie dunkel es war.

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Das war Kambodscha!

Kambodscha verbindet Vergangenheit und Gegenwart auf ganz eigene Weise. Zwischen Tempeln, Tuk-Tuks und Tragödien zeigt das Land, wie Geschichte weiterlebt – manchmal laut, manchmal leise, aber immer spürbar.

Nächster Stopp: Vietnam!