2009 – Zwischen Hupen, Hitze und Herz: Vietnam ist laut, lecker und lebendig. Von Saigon über das Mekong-Delta bis zu den Bergen von Sapa und den Felsen der Halong-Bucht – hier prallen Chaos, Charme und Geschichte aufeinander. Und genau das macht’s so großartig.
Millionen Mopeds und ein Mann namens Ho Chi Minh
Saigon
Schon bei der Ankunft fühle ich mich reich. Für 50 Euro bekomme ich 1,25 Millionen vietnamesische Dong – und bin damit offiziell Millionär. Leider nur bis zur ersten Nudelsuppe. Willkommen in Saigon, oder wie sie heute offiziell heißt: Ho Chi Minh City. Der Name ehrt den Revolutionsführer Ho Chi Minh, der das Land einst in die Unabhängigkeit führte und 1945 die Demokratische Republik Vietnam ausrief. Für viele Vietnamesen ist er bis heute eine Art Vaterfigur – bescheiden, diszipliniert, fast schon mythisch. Der alte Name Saigon aber bleibt im Alltag lebendig, vor allem im Süden, wo man ihn mit einem Lächeln und etwas Stolz ausspricht.
Kaum bin ich Millionär geworden, nehme ich mir ausnahmsweise ein Taxi – zusammen mit einem Mitreisenden. Wir unterhalten uns, lassen uns vom ersten Stadtchaos berieseln und staunen aus dem Fenster. Dabei läuft das Taximeter fröhlich mit. Und steigt. Und steigt. Die Zahlen springen, als hätten sie ein Eigenleben. Irgendwann frage ich, wann wir denn wohl da seien. Der Fahrer meint in gebrochenem Englisch: „Soon, soon.“
Nach einer Weile dämmert es mir: Wir hätten längst am Ziel sein müssen. Kurz darauf sehe ich bekannte Straßenecken – wir drehen Runden. Der nette Fahrer fährt uns einfach ein bisschen spazieren, um an mein frisch abgehobenes Vermögen zu kommen. Nichts für ungut. Ich zahle, lächle gequält, hake es als „Willkommen in Saigon“ ab – und bin die ersten 100.000 Dong schon wieder los.
Saigon ist Hitze, Hupen und Hochhäuser. Fünf Millionen Einwohner, sieben Millionen Mopeds – und offenbar keine Regeln. Der Verkehr ist eine Sehenswürdigkeit für sich: ein lebendiges Knäuel aus Motoren, Menschen und Mut. Für uns Europäer wirkt das wie ein orchestriertes Chaos ohne Dirigenten. Herausfordernd wird es spätestens dann, wenn man die Straße überqueren will. Eine Lücke suchen? Zwecklos. Es gibt keine. Der Trick lautet: langsam losgehen, gleichmäßiges Tempo halten und darauf vertrauen, dass die Mopeds wie Wasser vor und hinter einem vorbeifließen. Idealerweise klemmt man sich noch an einen Einheimischen – dann läuft’s. Das ist Saigon: Man lernt es nicht, man erlebt es.
Trotz allem Chaos hat Saigon Stil. Unter französischer Kolonialherrschaft wächst die Stadt im 19. Jahrhundert zur „Perle des Fernen Ostens“. Breite Boulevards, Kolonialvillen, Cafés – vieles erinnert bis heute an diese Zeit. Besonders schön: die Notre-Dame-Kathedrale, mit roten Ziegeln aus Marseille, und gleich daneben das Zentralpostamt, entworfen von Gustave Eiffel. Zwischen französischem Chic und asiatischer Geschäftigkeit wirkt Saigon manchmal wie Paris auf Speed.
Ein Stück Geschichte gibt’s im Wiedervereinigungspalast, wo 1975 die Panzer der Nordvietnamesen durch das Tor brechen – das Ende des Vietnamkriegs und der Beginn eines neuen Kapitels. Wer noch mehr über diese Zeit wissen will, besucht das Kriegsmuseum: eine eindringliche, manchmal schwer zu ertragende Sammlung von Bildern und Berichten, die zeigen, wie tief die Narben des Kriegs sitzen.
Doch Saigon wäre nicht Saigon, wenn es nicht in der nächsten Minute schon wieder duften, lachen und leben würde. An jeder Straßenecke dampfen Garküchen, in denen Nudeln zischen und Suppen blubbern. Ich lande mit einer alten Studienfreundin in einem winzigen Restaurant, das vermutlich keinen Namen hat, aber Geschmack für zehn Sterne. Pho, Frühlingsrollen, gebratener Reis – alles frisch, würzig, ehrlich. Keine Katze, kein Hund, aber jede Menge Geschmacksexplosion.
Abends, wenn die Sonne hinter den Wolkenkratzern versinkt und die Neonlichter angehen, verwandelt sich die Stadt in ein flirrendes Lichtermeer. Zwischen Rooftop-Bars, hupenden Mopeds und Straßenständen pulsiert das neue Vietnam – jung, laut, ehrgeizig.
Saigon ist keine Stadt, die man einfach besichtigt. Sie ist ein Erlebnis. Eine Mischung aus Kolonialgeschichte, kommunistischer Vergangenheit und kapitalistischer Zukunft – alles gleichzeitig, alles laut, alles echt. Und während Mopeds, Menschen und Musik um mich herum verschmelzen, wird klar: Hier steht Vietnam nie still – und das ist genau ihr Zauber.
Zwischen Wasser, Wäsche und Wundern
Mekong-Delta
Von Saigon geht’s weiter ins Mekong-Delta, das schwimmende Wohnzimmer Südvietnams. Hier leben Millionen Menschen auf, am und vom Wasser – und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, bei der jeder TÜV-Prüfer Schnappatmung bekäme. Der Mekong ist Waschmaschine, Badewanne, Spülbecken und Angelrevier in einem. Wer hier lebt, braucht kein Fitnessstudio – das Leben hält genug Bewegung bereit.
Ich starte in Can Tho, fahre weiter nach Chau Doc – zwei Orte, die man sonst nur kennt, wenn man mal aus Versehen in den falschen Bus steigt. Aber das ändert sich schnell. Mit einem kleinen Boot schippere ich durch enge Flussarme, vorbei an Holzhütten mit Wellblechdach, badenden Kindern und Hähnen, die offenbar rund um die Uhr Dienst haben. Der Fluss riecht nach Schlamm, Rauch und Leben. Man weiß nicht genau, was hier alles im Wasser schwimmt – man will’s auch gar nicht so genau wissen.
Mein erster Guide nennt sich Mr. Lovely. Und das ist kein Witz – so steht’s auch auf seinem Namensschild. Der Mann ist cooler als die Klimaanlage im Bus. Mit ihm tuckern wir durch die Gegend, besuchen eine Familie, die aus Kokosnüssen Bonbons macht (superlecker, superzahnklebrig) und eine Werkstatt, in der Reispapier noch per Hand hergestellt wird. Alles wirkt ein bisschen improvisiert, aber irgendwie funktioniert’s.
Am nächsten Morgen geht’s zum Floating Market – um sieben Uhr. Das ist die Uhrzeit, zu der mein Gehirn normalerweise noch im Flugmodus ist. Hunderte Boote schippern auf dem Fluss, beladen mit Ananas, Melonen, Zwiebeln und allem, was man sonst noch stapeln kann. Händler schreien, Motoren dröhnen, Boote stoßen aneinander – ein schwimmendes Chaos mit Obstbeilage. Ich bekomme Mango direkt aus dem Boot gereicht. Sie schmeckt nach Sonne, Schweiß und Sieg.
Am dritten Tag übernimmt Mr. Tong – ein zahnloser Kriegsveteran, Entertainer und wandelnde Legende. Zwischen zwei Tempelstopps präsentiert er stolz eine alte Kriegsnarbe und singt ein selbstgeschriebenes Lied: „Every evening, duck is coming, and flying to horizon.“ Niemand weiß, was das bedeutet, aber alle feiern’s. Mr. Tong ist eben einer von der Sorte, die jeden Tag zum Erlebnis machen – ob man will oder nicht.
Wir besuchen noch eine Fischfarm, bei der das Füttern mehr Spritzwasser verursacht als ein Kindergeburtstag, und ein Dorf der Cham, einer muslimischen Minderheit, die hier traditionell lebt – mit Sarong, Gebet und Gelassenheit, die ansteckend ist.
Als wir zurück Richtung Stadt fahren, denke ich: Das Mekong-Delta ist laut, schmutzig, warm, nass – und großartig. Hier ist nichts perfekt, aber alles echt. Und wer sich mal gefragt hat, wie man mit drei Brettern, einem Bootsmotor und einer Kokosnuss durch den Alltag kommt – hier bekommt man die Antwort.
Sonne, Sand und selbst schuld
Nha Trang
Nach Tagen auf Booten, Bussen und Flüssen will ich Meer. Also ab in den Nachtbus nach Nha Trang – endlich Strand, dachte ich. Sonne, Sand, einfach mal nichts tun. Der Bus hat Liegesitze, die aussehen wie Betten, sich aber anfühlen wie verbeulte Sofas aus den 80ern. Trotzdem schlafe ich erstaunlich gut – zu gut, wie sich später zeigt.
Denn als ich morgens in Nha Trang ankomme, bin ich plötzlich sehr ausgeschlafen, aber auch sehr erleichtert – im wörtlichen Sinne. Mein Rucksack ist offen, mein Laptop weg, mein Handy weg, mein Geld weg, meine Kreditkarten weg. Kurz gesagt: alles weg, was nicht niet- und nagelfest war.
Selbst schuld. Ich hatte den Rucksack neben mir stehen, leichtsinnig, sorglos – schließlich hatte ich mich in Asien immer sicher gefühlt. Klar, man wird gerne mal übers Ohr gehauen, bezahlt zu viel fürs Tuk-Tuk oder bekommt im Restaurant „Special Price, my friend“. Aber Diebstahl? Damit hätte ich nie gerechnet. Ich erinnere mich an den Mann hinter mir, den ich beim Einsteigen noch freundlich gegrüßt habe. Jetzt ist er weg – und mein Zeug mit ihm.
Ein paar Worte auf Englisch mit dem Busfahrer bestätigen meinen Verdacht: Der Typ sei unterwegs spontan ausgestiegen. Spontan! Mit meinen Sachen. Ich glaube, das nennt man effizientes Handgepäckmanagement.
Ich sitze also da – pleite, genervt, aber immerhin am Meer. Zum Glück treffe ich ein sympathisches Schweizer Paar, das ich im Mekong-Delta kennengelernt habe. Sie leihen mir etwas Geld und retten mir damit buchstäblich den Tag. Ich bestelle eine neue Kreditkarte, die ein paar Tage braucht, bis sie hier ankommt. Also bleibe solange einfach hier.
Nha Trang selbst ist eine Mischung aus vietnamesischem Badeort und russischem Pauschalparadies. Kilometerlanger Strand, türkisblaues Wasser, Hochhäuser, die aussehen wie Zahnpastatuben. Dazwischen Bars, Tauchschulen, Massageangebote – und Verkäufer, die alles verkaufen, was nicht schwimmt. Eigentlich ein netter Ort, wenn man nicht gerade unfreiwillig auf dem Sparkurs ist.
Ich wohne in einer kleinen Familienpension, geführt von einem geschäftstüchtigen Hausherrn, der mir täglich neue Abenteuer verkaufen will. „You want Jet Ski? You want motorbike? You want snorkeling?“ Ich sage jedes Mal: „No money – money stolen, you know?“ Er nickt, lächelt – und bietet mir beim nächsten Frühstück wieder Jet Ski an.
Ich habe Angst, dass mein Brief mit der Kreditkarte hier nicht entgegengenommen wird. Ich versuche, ihm die Situation zu erklären. Ich male eine Kreditkarte auf ein Blatt Papier, daneben einen Briefumschlag, dann zeige ich aufs Meer, auf mich und auf die Post. Ich glaube, es war ein Meisterwerk der internationalen Kommunikation. Er nickt verständnisvoll – und fragt, ob ich stattdessen vielleicht eine Stadtrundfahrt möchte.
Also gehe ich Tag für Tag einfach an den Strand. Keine Ausflüge, kein Shopping, nur Sonne, Salz und Warten auf die Post. Ich sitze im Sand, zähle Wellen, döse, schwitze und denke: Immerhin kann mir hier keiner mehr was klauen – ich hab ja nichts mehr.
Abends gehe ich an eine der Strandbars, trinke warme Cola aus der Flasche und schaue zu, wie die Sonne im Meer verschwindet. Um mich herum laufen Verkäufer, Musiker, Hunde und halbe Weltreisende. Ich bin pleite, verbrannt und irgendwie zufrieden. Nha Trang hat mich ausgebremst – aber auf eine seltsam gute Art. Dann ist die neue Karte da, und ich kann endlich weiter.
Schneider, Souvenirs und Selbstbeherrschung
Hoi An
Nach Tagen am Strand, ohne Geld, aber mit ausreichend Sonnenbrand, verlasse ich Nha Trang. Meine neue Kreditkarte ist endlich da, das Konto wieder flüssig – und ich beschließe, das Leben zu feiern. Der nächste Stopp heißt Hoi An – laut Reiseführer eine charmante Altstadt mit Geschichte, Laternen und Schneiderläden. In Wahrheit ist es ein Ort, der jedem Reisenden nur eine Frage stellt: Wie viel Gepäckplatz hast du noch?
Hoi An war früher ein wichtiger Handelshafen, wo Chinesen, Japaner und Europäer Gewürze, Porzellan und Ideen austauschten. Heute tauschen Touristen ihr Geld gegen maßgeschneiderte Anzüge. Die Stadt ist ein Paradies für alle, die schon immer mal ihren eigenen Maßanzug, ein Kleid oder wahlweise 14 Seidentücher besitzen wollten. An jeder Ecke ruft jemand: „You buy suit? Cheap! Very good quality!“ Und ehrlich – die Qualität ist wirklich gut. Nur mein Rucksack ist zu klein, mein Budget zu schmal, und mein Modebewusstsein zu begrenzt.
Trotzdem – ich gebe zu: Ich bin kurz davor, schwach zu werden. Ein perfekt sitzender Anzug für 60 Dollar klingt einfach zu verlockend. Aber die Vernunft siegt. Ich denke an den Diebstahl, an meine improvisierte Kreditkartenzeichnung und beschließe:
Heute kein Risiko. Irgendwann werde ich mich dafür verfluchen, wenn ich bei Zara 200 Euro für Polyester zahle. Aber das ist ein Problem für die Zukunft.
Hoi An selbst ist ein kleines Postkartenmotiv, das man kaum falsch fotografieren kann. Gelbe Häuser mit Holzläden, alte chinesische Handelshäuser, bunte Lampions über den Gassen – alles sieht aus, als hätte jemand Instagram erfunden, bevor es Smartphones gab. Die berühmte Japanische Brücke verbindet zwei Stadtteile, ist aber so kurz, dass man sie in drei Schritten überquert. Trotzdem pilgern täglich hunderte Menschen darüber, mich eingeschlossen.
Ich schlendere durch die Gassen, trinke vietnamesischen Kaffee (stark genug, um tote Elefanten zu wecken), probiere Straßensnacks und beobachte Touristen, die sich gegenseitig beim Laternenanzünden fotografieren. In Hoi An kann man sich stundenlang treiben lassen – und genau das mache ich.
Abends sitzt man am Fluss, isst gebratene Nudeln, trinkt ein Bier für 30 Cent und beobachtet, wie die Stadt in warmes Laternenlicht getaucht wird. Es ist kitschig, klar – aber auf die sympathische Art. Und während neben mir ein Schneider versucht, mir noch schnell eine Weste aufzuschwatzen, denke ich: Wenn schon Touristenfalle, dann wenigstens eine hübsche.
Kaiser, Krieger und Kringelregen
Hue
Von Hoi An geht’s mit dem Bus nach Hue, der alten Kaiserstadt Vietnams. Der Name klingt sanft, das Wetter ist es nicht. Kaum angekommen, öffnet der Himmel alle Schleusen, als wollte er mir beweisen, dass „Regenzeit“ kein theoretisches Konzept ist. Ich ziehe meine dünne Plastiktüte von Poncho über – die einzige Schicht zwischen mir und dem Monsun – und los geht’s auf Kaiser-Tour.
Hue war von 1802 bis 1945 die Hauptstadt des Kaiserreichs und Sitz der Nguyen-Dynastie. Hier regierten 13 Kaiser, die sich zu Lebzeiten vor allem um eins kümmerten: den Bau ihrer eigenen Gräber. In Vietnam gilt offenbar das Motto: Lieber früh anfangen, man weiß ja nie. Und so stehen rund um die Stadt gigantische Tempelkomplexe, Pavillons und Teiche, die alle nur einem Zweck dienen – dem königlichen Ruhestand im Jenseits.
Ich besuche drei dieser Kaisergräber, jedes ein architektonischer Overkill aus Statuen, Stufen und steinernen Wächterfiguren. Die Grabanlage von Khai Dinh wirkt, als hätte jemand ein gotisches Schloss in einen Dschungel gestellt und dann vergessen, Farbe zu bestellen. Grau, pompös, beeindruckend. Dann das Grab von Minh Mang, ein Stück Zen mit Wasserbecken und Brücken. Und schließlich das von Tu Duc, der über 100 Frauen hatte, aber ohne Nachfolger starb – vermutlich, weil er bei der Auswahl zu gründlich war.
Der Regen macht alles noch dramatischer. Nebel zieht über die Tempel, Wasser tropft von den Dächern, meine Kamera beschlägt, und ich sehe aus wie eine Mischung aus Rucksacktourist und Regenwurm. Trotzdem: beeindruckend.
Zurück in der Stadt besuche ich die Thien-Mu-Pagode, das älteste religiöse Bauwerk des Landes. Hier lebte 1963 der Mönch, der sich aus Protest gegen das Regime selbst verbrannte – ein Bild, das um die Welt ging. Sein alter Austin-Wagen, mit dem er damals nach Saigon fuhr, steht noch immer neben dem Tempel. Kein Museum der guten Laune, aber ein wichtiger Ort.
Danach geht’s zur Zitadelle, dem riesigen Festungsareal, das die Kaiser einst umgab. Innen liegt die sogenannte Verbotene Purpurne Stadt, einst das Reich der Konkubinen – heute eine Ruinenlandschaft, die man mit Fantasie wieder zusammensetzen muss. Viele Gebäude wurden im Vietnamkrieg zerstört, aber was bleibt, ist gewaltig genug, um zu beeindrucken.
Abends sitze ich in einem kleinen Lokal, tropfnass, aber glücklich, und bestelle Bun Bo Hue, eine Nudelsuppe mit Chili, Zitrone und Rindfleisch. Scharf, heiß, herrlich. Während der Regen gegen die Fenster trommelt, denke ich: Die Kaiser wussten schon, wo’s schön ist. Nur beim Wetter hätten sie noch ein bisschen Feinschliff vertragen.
Chaos mit Charme
Hanoi
Nach dem Süden fühlt sich Hanoi an wie ein anderer Planet. Kälter, grauer, dichter – und trotzdem voller Leben. Mopeds gibt’s hier natürlich auch, allerdings noch mehr pro Quadratmeter. Manchmal habe ich das Gefühl, halb Vietnam sitzt gleichzeitig auf zwei Rädern. Und irgendwie funktioniert’s.
Hanoi ist die Hauptstadt Vietnams – politisch, kulturell, und wahrscheinlich auch, was das Dauerhupen angeht. Hier regiert das organisierte Chaos mit fester Hand. Ich buche mir also ein Moped mit Fahrer, setze einen viel zu kleinen Helm auf und lasse mich durch den Verkehr manövrieren. Mein Fahrer heißt Thanh, spricht fließend Deutsch („Ich war in der DDR!“) und schwärmt von Magdeburg. Ich schwanke zwischen Nostalgie und Todesangst.
Die Stadt selbst ist ein kurioser Mix aus Vergangenheit und Verkehr: zwischen französischem Kolonialviertel, Altstadtgassen mit schmalen Häusern und kommunistischen Monumenten. Über allem hängt eine Mischung aus Smog, Bratfett und Geschichte.
Ich starte am Ho-Chi-Minh-Mausoleum – einem grauen Betonblock, in dem der „Onkel Ho“ aufgebahrt liegt. Das ist kein Scherz: Man kann ihn wirklich sehen. Oder besser gesagt, eine sehr gut konservierte Version von ihm. Der Besuch ist streng geregelt: kein Lächeln, kein Foto, kein Schritt zu viel. Drum herum steht das alte Wohnhaus von Ho Chi Minh, schlicht, fast bescheiden – ganz anders als der Kult, der um ihn gemacht wird.
Danach geht’s zum Literaturtempel, der ältesten Universität des Landes, gegründet im 11. Jahrhundert. Zwischen Teichen, Pavillons und steinernen Schildkröten herrscht erstaunliche Ruhe. Ein paar Schüler beten für gute Noten – und ich überlege kurz, ob das vielleicht auch bei Steuererklärungen hilft.
Das Ethnologische Museum steht ebenfalls auf meiner Liste – perfekt zur Vorbereitung auf mein nächstes Ziel, die Berge im Norden. Hier erfährt man, wie vielfältig Vietnam wirklich ist: über 50 Ethnien, alle mit eigener Kleidung, Sprache und Tradition.
Zwischendurch probiere ich mich durch Hanois kulinarisches Straßenchaos: Banh Mi, Pho, Eiskaffee mit gesüßter Kondensmilch, irgendwas Frittiertes, das vermutlich einmal geschwommen ist. Ich weiß es nicht genau – aber es schmeckt.
Abends lande ich im Old Quarter, dem Altstadtviertel, wo jede Straße nach dem verkauft, was sie früher mal anbot: Seidenstraße, Zuckergasse, Schmiedegasse. Heute ist alles durcheinander – und genau das macht’s aus. Mopeds, Garküchen, kleine Bars, Plastikhocker, Lichterketten. Ich sitze zwischen Einheimischen, trinke Bia Hoi, das billigste Bier der Welt, und beobachte, wie sich das Leben durch die Straßen drückt.
Hanoi ist anstrengend, laut, manchmal klebrig – aber unglaublich echt. Eine Stadt, die nicht gefallen will und es genau deshalb tut. Hier vibriert Vietnam. Und wer nach einem Tag im Verkehr überlebt, darf sich mit Recht Reisender nennen.
Schlamm, Schweiß und Schieflage
Sapa
Von Hanoi geht’s mit dem Nachtzug nach Sapa, ein Bergstädtchen im Norden, irgendwo zwischen Reisterrassen, Nebel und chinesischer Grenze. Hier soll Vietnam ganz anders sein – kühler, ruhiger, echter. Klingt verlockend. Bei der Ankunft empfängt mich trotzdem erst mal ein kleiner Basar aus Stimmen, Souvenirs und Regenjackenverkäufern. Willkommen im Hochland.
Sapa ist bekannt für seine spektakulären Reisterrassen und Trekkingtouren durch die Dörfer der Bergvölker, allen voran der Hmong und Dzay. Ich schließe mich einer bunt gemischten Gruppe an – ein paar Spanier, eine Australierin und ich. Unser Guide heißt Mao. Er ist drahtig, lächelt viel und stapft mit Gummistiefeln voraus, während ich – in weißen Sneakern – schon nach zehn Minuten weiß, dass das eine schlechte Idee war.
Der Weg ist steil, glitschig und matschig. Es regnet natürlich, der Boden ist ein einziger Schmierfilm, und ich rutsche mehr, als ich gehe. Gleich zu Beginn verliere ich das Gleichgewicht, stolpere eine Terrasse hinunter und lande halb im Gebüsch. Nichts passiert – außer, dass Mao und der Rest der Gruppe mich jetzt „the flying tourist“ nennen.
Bald schließen sich uns ein paar Frauen der Black Hmong an – klein, bunt gekleidet, ausdauernd wie Bergziegen. Anfangs denke ich, sie begleiten uns einfach so. Später merke ich: Das ist Marketing. Wer dich stundenlang durch den Matsch zieht, verkauft dir am Ende garantiert eine handgewebte Tasche. Funktioniert perfekt.
Wir wandern durch Dörfer, in denen Hühner zwischen den Häusern herumlaufen, Kinder winken und Wasserbüffel den Verkehr regeln. Die Luft riecht nach Erde, Rauch und Leben. Trotz allem Rutschen, Schwitzen und Fluchen – es ist großartig.
Abends landen wir in einem Homestay bei einer Familie der Dzay. Ein Holzhaus auf Stelzen, in der Mitte eine Feuerstelle, außen tropft der Regen. Es gibt Reis, Gemüse, Fleisch und selbstgebrannten Reisschnaps, der warm macht – und irgendwann selig.
Mao gießt nach, lacht und singt, wir lachen mit. Kommunikation läuft über Gestik, Mimik und Alkohol – funktioniert erstaunlich gut.
Am nächsten Tag geht’s weiter – neue Dörfer, neue Pfützen, neue Stürze. Die Menschen hier leben mit kaum etwas, aber scheinen alles zu haben, was sie brauchen. Kein Strom, kein WLAN, kein Stress. Ich frage mich kurz, ob man das „einfach leben“ nennt oder „kein Netflix haben“.
Nach zwei Tagen bin ich nass, verdreckt und glücklich. Sapa ist kein Spaziergang, sondern eine Schlammschlacht mit Aussicht – aber genau das macht’s so gut. Mao klopft mir zum Abschied auf die Schulter und sagt: „You good walker.“ Ich nicke. Und denke: Naja, mehr oder weniger.
Inseln, Illusionen und Instant-Reiswein
Halong Bay
Zurück in Hanoi bleibe ich nur lange genug, um wieder aufzutauen und einen Kaffee zu trinken, der stark genug ist, um Motoren anzutreiben. Dann geht’s weiter zur Halong-Bucht – dem Postkartenmotiv schlechthin. Jeder Vietnam-Reisende landet hier früher oder später, und alle wollen das Gleiche: Sonne, Felsen, Meer und mindestens ein gutes Foto fürs Profilbild.
Die Bucht liegt im Norden, rund 170 Kilometer von Hanoi entfernt, und ist ein Naturwunder in XXL. Über 3000 Kalksteininseln ragen aus dem smaragdgrünen Wasser – spektakulär, mystisch, leicht überfüllt. Ich gehe an Bord einer traditionellen Dschunke, also eines dieser charmanten Holzschiffe, die aussehen, als wären sie direkt aus einem Piratenfilm geklettert – nur mit Buffet und Zeitplan.
Die Crew ist freundlich, das Essen sensationell, und das Programm durchgetaktet: Insel, Höhle, Essen, Aussicht, nochmal Essen. Ich lerne schnell: Wer auf einer Dschunke reist, isst entweder gerade oder wartet darauf.
Die Höhlen in den Felsen sind beeindruckend, teilweise riesig, und tragen kreative Namen wie „Surprise Cave“. Der Name ist Programm – die Überraschung besteht meist darin, dass es in der Höhle plötzlich Souvenirstände gibt.
Zwischendurch geht’s mit kleinen Booten durch Lagunen und vorbei an Felsen, die aussehen wie Tiere, Politiker oder beides. Der Guide zeigt auf einen besonders markanten Stein und sagt: „That’s Fighting Cock Island.“ Ich sehe zwei Felsen, die sich gegenseitig anstarren. Könnte stimmen.
Abends ankern wir zwischen den Inseln. Das Wasser ist ruhig, der Himmel glüht, und auf den anderen Booten wird Karaoke geschmettert. Ein Mitreisender fischt eine Flasche Reisschnaps hervor, und wir stoßen an – auf Vietnam, auf das Meer, auf funktionierende Kreditkarten. Der Geschmack liegt irgendwo zwischen Spiritus und Mut, aber das tut der Stimmung keinen Abbruch.
Am nächsten Morgen geht’s früh raus, zum Sonnenaufgang über der Bucht. Nebel hängt zwischen den Felsen, die Boote gleiten lautlos durchs Wasser, und selbst ich halte kurz die Klappe. Nicht aus Romantik, sondern weil ich noch halb schlafe. Trotzdem: schön.
Dann heißt es Abschied nehmen – von Vietnam und von drei Monaten Südostasien. Über Hanoi und Hongkong geht’s zurück nach Hause. Und während die Maschine abhebt, denke ich: Schön war’s. Laut, heiß, chaotisch – aber wunderschön.
Das war Vietnam!
Drei Wochen Vietnam – voll mit Lärm, Lächeln und Leben. Mein Aufenthalt war zwar leicht beschädigt – Laptop, Handy, Geld, alles weg – aber am Ende habe ich mehr gefunden, als verloren. Trotz Diebstahl war’s großartig.
Letzter Stopp in Südostasien: Laos!
Kommentar hinzufügen
Kommentare