Indien beginnt nicht leise. Es knallt rein – mit Lärm, Gerüchen, Kühen auf der Straße und dem endlosen Gewusel auf den Basaren. Von Delhi über das weltberühmte Taj Mahal, durch das Wüstenreich Rajasthan mit seinen Städten Jaipur, Bikaner, Jaisalmer, Jodhpur und Udaipur, bis zu den heiligen Ghats von Varanasi – alles ist laut, wild, schön und anstrengend zugleich. Man schwitzt, staunt, verhandelt, hofft auf einen Tiger – und stolpert dabei immer wieder über Geschichten, die man nie vergisst.

Indischer Einstieg mit Hindernissen

Anreise

Mein nächstes Reiseziel: Indien. Ich starte in der Hauptstadt Delhi und lande um ein Uhr nachts. Schon im Vorfeld hatte ich von einer weit verbreiteten Masche gehört: Taxifahrer erzählen Reisenden, dass die Straße zum gebuchten Hostel angeblich gesperrt sei – nur um sie dann in ein anderes Hotel zu lotsen, das ihnen eine Provision zahlt.

Um genau das zu vermeiden, buche ich vorsichtshalber bei einer empfohlenen Taxigesellschaft, der man nachsagt, solche Tricks nicht zu spielen. Ich steige ein – und prompt setzt sich ein zweiter Inder auf den Beifahrersitz. Zwei gegen einen. Na super.

Der neue Mitfahrer stellt sich als Boxer vor. Ich denke mir: Klar, einer fährt, der andere schlägt. Läuft bei mir. Es beginnt der typische Smalltalk:

„Where are you from?“ – „Germany.“
„Are you married?“ – „No.“
„How much do you earn?“ – Aha, Smalltalk auf Indisch.

Und dann kommt sie, die Frage, die man hier öfter hört, als einem lieb ist: "What do you think about Hitler?“ Ich erkläre ruhig, welches unermessliche Leid Hitler über die Welt gebracht hat. Die Antwort:  „Yes yes... but not everything was bad, no?“ Doch. Doch, war es. 

Wir fahren weiter durch das nächtliche Delhi, bis wir – Überraschung – vor einer vermeintlichen Straßensperrung 

stehen. Man teilt mir mit, dass der Weg zu meinem Hostel leider blockiert sei. Es gäbe aber ganz in der Nähe eine Reiseagentur, die mir gern mit einer passenden Unterkunft weiterhelfen würde.

Ich erkläre, dass mich das Hostel erwartet und die Straße laut deren Angaben frei ist – keine Chance. Kurze Zeit später sitze ich in einem düsteren Büro mit schummrigem Licht. Die zwei Herren aus dem Taxi sind nun zu siebt – fünf weitere Männer sind aus der Reiseagentur dazugekommen. Man spricht auf Hindi, gestikuliert wild, redet über mich, zeigt Hoteladressen.

Ich sitze da, umklammere meinen Rucksack und hoffe, dass sich diese Improvisationstruppe doch noch zu einem Ehrenabgang entschließt.

Und dann rollt draußen ein Tuk Tuk vorbei. Ohne zu zögern, reiße ich die Tür auf, schiebe mich in der Manier eines Footballspielers durch die Männertraube und springe samt Gepäck in das wartende Gefährt. Hollywoodreif.

Ich rufe mein Hostel an, übergebe dem Fahrer das Telefon – kurze Rücksprache mit der Rezeption, alles klar. Die Straße ist natürlich frei.

Ein paar Minuten später stehe ich endlich vor meiner Unterkunft. Etwas gestresst, aber erleichtert. Namaste, Indien. Wir zwei werden noch Spaß haben.

Hauptstraße in Delhi

Sightseeing, Spucketikette & Bollywood

Delhi

Nach einer Portion Schlaf wage ich mich ins Getümmel. Delhi ist laut, chaotisch, voll – aber es macht wach. Ich schlendere durch Old Delhi, wo sich auf den Märkten alles finden lässt, was man nie gesucht hat. Besonders faszinierend sind die Spezialstraßen: In einer Gasse wird ausschließlich Gold verkauft, in der nächsten gibt’s nur Kamera-Zubehör. Sony mag sagen, eine Reparatur sei nicht möglich – Delhi sieht das anders.

Ich besuche das eindrucksvolle Rote Fort, eine gewaltige Festungsanlage aus rotem Sandstein, erbaut im 17. Jahrhundert unter Mogulkaiser Shah Jahan – demselben Herrscher, der auch das Taj Mahal bauen ließ. Das Fort war über Jahrhunderte politisches Machtzentrum und ist heute UNESCO-Welterbe.

Auch das ehemalige Wohnhaus von Mahatma Gandhi steht auf meinem Programm: das Gandhi Smriti. Hier verbrachte Gandhi seine letzten 144 Tage, bevor er 1948 auf dem Gelände ermordet wurde. In der Anlage sieht man sein schlichtes Schlafzimmer, persönliche Gegenstände, viele Fotos – und draußen die letzten Schritte Gandhis, die in Stein eingelassen sind. Bewegend, still, würdevoll.

Am Abend organisiert mein Hostel einen Besuch im Kino. Gezeigt wird ein Bollywood-Film, komplett auf Hindi – aber das macht nichts. Die Geschichte ist universell:
Er liebt sie. Sie liebt ihn. Sie dürfen nicht. Dann doch. Zwischendurch drei Tanzszenen und ein Happy End mit einem zarten Kuss.

Während der Vorstellung bricht ein Stück Decke ab und ein Schwall Wasser ergießt sich über die vordere Sitzreihe. Das Publikum johlt – perfekte Dramaturgie. Technisch ausbaufähig, aber atmosphärisch top.

Nach zwei Tagen voller Eindrücke ziehe ich ein erstes Fazit.
Erstens: Inder spucken gern. Auf der Straße, aus dem Tuk Tuk, im Museum – überall. Zweitens: Drängeln ist Nationalsport. Warteschlangen sind ein theoretisches Konstrukt. Drittens: Fotos mit Ausländern sind beliebt. Ich fühle mich wie ein C-Promi in Flipflops. Viertens: Indien riecht. Nach Curry, Parfüm, Mensch – und gelegentlich nach Urin.

Zukunft bauen statt Zelte spenden: Zu Besuch bei SEEDS

Delhi

Nach den chaotisch-wuseligen ersten Tagen in Delhi steht heute ein besonders wichtiger Termin auf dem Plan: Ich besuche die Organisation SEEDS – eine indische Non-Profit, die sich seit 1994 für nachhaltigen Wiederaufbau nach Naturkatastrophen einsetzt.

Gegründet wurde SEEDS von einem Architekten, der statt Bürohochhaus lieber Schutzdach baute – und das für Menschen, die durch Erdbeben, Fluten oder Zyklone ihr Zuhause verloren haben. Heute ist SEEDS in mehreren Regionen Indiens sowie in Nepal aktiv, wo nach dem verheerenden Erdbeben im April 2015 nach wie vor riesiger Bedarf an Unterstützung besteht.

Vor Ort treffe ich Anshu und Shreeja, die bei SEEDS für Kommunikation und Aufklärung zuständig ist. Beide sind dankbar für die mitgebrachte Spende – und voller Ideen, wie man das Geld einsetzen kann. Wir entscheiden uns gemeinsam dafür, damit sogenannte Schul-Sicherheitsprogramme zu unterstützen: Kinder in gefährdeten Regionen werden auf Notsituationen 

vorbereitet, mit Übungen und Sicherheits-Paketen, die im Ernstfall Leben retten können. Nebenbei erfahre ich von einem weiteren Projekt, das dringend Mittel benötigt: Solarbetriebene Licht-Kits für Familien in Nepal, die noch immer in provisorischen Unterkünften leben. Für umgerechnet 50 Dollar lässt sich ein Haus für den ganzen Winter mit Licht versorgen – eine kleine Summe, die in den Bergen enorm viel bedeutet.

SEEDS denkt langfristig: Statt nur Soforthilfe zu leisten, geht es darum, Strukturen zu schaffen. Häuser, die einem nächsten Sturm standhalten. Schulen, die im Katastrophenfall nicht zusammenbrechen. Menschen, die wissen, was zu tun ist, wenn der Ernstfall eintritt.

Wer mithelfen möchte – sei es mit Zeit, Know-how oder Spenden – findet Infos und Kontakt auf www.seedsindia.org.

Delhi war ein intensiver und spannender Einstieg. Weiter geht’s: zum Taj Mahal.

Ich mit zwei Personen von SEED

Taj-Träume und Toilettenblicke

Agra

Das waren mal aufregende Tage in Delhi. Ich freue mich jetzt aber, die Stadt zu verlassen und weiterzuziehen. Mit einem frühen Zug geht es nach Agra, wo sich das berühmte Taj Mahal befindet – das wohl bekannteste Gebäude Indiens und eines der berühmtesten Bauwerke der Welt. Es ist nicht einfach nur ein schönes Mausoleum, sondern ein echtes Liebesdenkmal: Shah Jahan ließ es im 17. Jahrhundert für seine Lieblingsfrau Mumtaz Mahal errichten, die bei der Geburt ihres 14. Kindes starb. Ganze 20.000 Arbeiter waren 22 Jahre mit dem Bau beschäftigt. Das Resultat: ein perfekt symmetrisches Bauwerk aus weißem Marmor, verziert mit Halbedelsteinen und islamischen Inschriften. Wenn man das schneeweiße Kunstwerk zum ersten Mal erblickt, ist man direkt verzaubert.

Gegen 8 Uhr morgens rollt der Zug aus Delhi gemächlich mit mir in Agra ein. Rechts und links hocken Inder im Gebüsch, das Höschen runtergelassen, und verrichten ihren morgendlichen Toilettengang. Bei der ersten Person ist das noch ganz lustig, dann reihen sich aber dutzende Ausscheider hockend aneinander. Niemand lässt sich stören – aber wenn man einmal dabei ist, fällt es ja auch schwer aufzuhören. Kein schöner Anblick direkt nach dem Frühstück.

Am Bahnhofsausgang erwarten mich die Schlepper und bieten Touren an. Ich wähle einen Tuk-Tuk-Fahrer aus. Laut einem Aufkleber auf seinem Gefährt ist er bei Tripadvisor gelistet. Zwar habe ich keine Möglichkeit, das Rating zu testen, aber der Aufkleber überzeugt mich, er bekommt den Zuschlag. Es geht direkt zum Taj Mahal, wo ich mit Audioguide bewaffnet alles abklappere. Zwischendurch mache ich fleißig Fotos mit Einheimischen – ein Inder bittet mich sogar, ihm eines per SMS zu schicken. Aber das geht zu weit. Es fällt schwer, sich am Taj sattzusehen – die perfekte Symmetrie, die Ruhe inmitten der Touristenmassen und dieser Blick auf das spiegelnde Wasserbecken davor – aber es gibt ja noch mehr zu erkunden.

Nur wenige Kilometer entfernt liegt das Rote Fort von Agra, eine mächtige Festung aus rotem Sandstein, die einst als kaiserliche Residenz diente. Neben Palästen, Moscheen und Innenhöfen beherbergte sie auch Shah Jahan selbst – allerdings unter Arrest, verbannt von seinem eigenen Sohn, mit Blick auf das Grabmal seiner Frau.

Danach versucht mich mein Fahrer noch in ein paar Shops zu bugsieren: „Sir, just looking, no buying“, meint er freundlich. Klar, ich soll schauen, er kassiert die Provision. Das gibt natürlich Abzüge bei Tripadvisor – aber das ein oder andere Souvenir wollte ich ja eh kaufen.

Paläste, Planeten und Pfauenpracht

Jaipur

Am Nachmittag reise ich weiter nach Jaipur. Ich habe mir einen ambitionierten Reiseplan zurechtgelegt – da heißt es, keine Zeit zu verlieren. Diesmal fahre ich mit dem Bus durch den indischen Straßenverkehr. Ein waghalsiges Unterfangen, denn hier gilt die goldene Regel: Es gibt keine Regeln. Fahrer dürfen keine Angst zeigen – gute Bremsen und eine laute Hupe sind Pflicht. Schlafen im Bus? Unmöglich! Es wird ständig gehupt, abrupt gebremst oder auf die Gegenfahrbahn ausgewichen. Fünf Stunden später kommen wir – Bus und ich – heil, aber leicht durchgeschüttelt, in Jaipur an.

Ich checke im Hostel ein und freue mich auf mein Abendessen. Seit meiner Ankunft in Indien lebe ich vegetarisch – kein Risiko mit Fleisch, keine unnötigen Toilettenbesuche. Überraschenderweise fällt es mir nicht schwer. Die indische Küche ist auch ohne Fleisch so abwechslungsreich, dass ich bisher nichts vermisse.

Am nächsten Morgen steht Sightseeing auf dem Programm. Ich beginne mit dem imposanten Amber Fort, etwa 11 Kilometer außerhalb der Stadt. Diese Festungsanlage aus dem 16. Jahrhundert thront majestätisch über einer Hügelkette. Prunkvolle Innenhöfe, ein Spiegelsaal mit funkelndem Glasmosaik und eine ausgeklügelte Kühlungstechnik machen deutlich, dass es sich hier einst recht komfortabel herrschen ließ. Vom Innenhof aus lässt sich gut vorstellen, wie hier Elefanten 

zum Reiten standen, ein Harem zur Verteilung der königlichen Gene bereitstand, und im Hammam die Körperpflege zelebriert wurde.

Wieder zurück in der Stadt schlendere ich durch den weitläufigen Stadtpalast von Jaipur, wo noch heute Teile von der Nachkommen des Maharadschas bewohnt werden. Als Tourist darf man immerhin prachtvolle Innenhöfe und Museen betreten, darunter das berühmte Pfauen-Tor – ein Paradebeispiel traditioneller Rajputenarchitektur mit viel Farbe und Symbolkraft.

Direkt an der Hauptstraße steht der wohl bekannteste Bau Jaipurs: der Hawa Mahal, auch "Palast der Winde" genannt. Seine Fassade besteht aus über 900 kleinen, kunstvoll verzierten Fenstern. Dahinter konnten die Damen des Hofs das Treiben auf der Straße beobachten – natürlich, ohne selbst gesehen zu werden. Ein echter Hingucker für Instagram, auch ohne Hofdamen.

Und dann gibt es da noch das Jantar Mantar, ein riesiges Freiluft-Observatorium mit astronomischen Großinstrumenten. Erbaut im 18. Jahrhundert zur präzisen Berechnung von Zeit und Sternkonstellationen. Mathematik trifft Monumentalbau – und ich habe keine Ahnung, was die ganzen Skalen anzeigen. Aber eindrucksvoll ist das Ganze trotzdem.

Nach einem vollen Besichtigungstag freue ich mich auf mein vegetarisches Curry zum Abendessen – und auf ein Bett, das nicht gleichzeitig Hupe und Stoßdämpfer sein will.

Radjasthan – Im Land der Könige

Bikaner und die Thar-Wüste

Tschüß Jaipur, auf nach Radjasthan. So heißt die Region westlich von Delhi und Jaipur. Übersetzt heißt das „Land der Könige“, was nahe liegt – schließlich gaben sich hier einst die Maharadschas die Klinke in die Hand. Da mein Reiseplan mal wieder viel zu voll gepackt ist, nehme ich, um Zeit zu sparen, den Nachtzug nach Bikaner, einer Stadt am Rande der Thar-Wüste, die diese Region beherrscht.

Zugfahren ist in Indien sehr populär, das Netz ist dicht und günstig. Ich lande in einem offenen 6er-Abteil, was auch erhöhte Diebstahlgefahr bedeutet. Die Mitreisenden fragen interessiert, wo ich herkomme und wohin ich will. Ein älteres Ehepaar liegt unten – ich hoffe, die passen ein wenig auf mich auf. Mein Schlafplatz ist ganz oben – regelmäßig stoße ich mir den Kopf an der Decke. Ich verbarrikadiere mich mit meinen Rucksäcken, döse in Etappen ein paar Stunden und komme nur leicht übermüdet in Bikaner an.

Dort lege ich gleich los: Ich besuche den berühmten Karni-Mata-Tempel, besser bekannt als Rattentempel. Dieser besondere Ort befindet sich etwa 30 Kilometer außerhalb der Stadt und wird von Tausenden Ratten bewohnt. Die Tiere gelten hier als heilig – als Reinkarnationen verstorbener Familienmitglieder der Karni-Mata-Anhänger – und dürfen auf keinen Fall verletzt werden. Also: Schuhe aus und durch. Ich taste mich langsam vor, überall huschen die Tierchen umher, sitzen in Mauerritzen, Gitterstäben und Futterstellen. Mein Fahrer mahnt zur Vorsicht: Sollte ich versehentlich eine der Ratten zertreten, müsste ich deren Gewicht in Silber an den Tempel spenden. Kein schöner Gedanke – weder das Zertreten noch die Investition. Also: Auf Zehenspitzen durchs Heiligtum. Manche Einheimische füttern die Ratten direkt vom Teller, lassen sie vom Löffel naschen. Am Anfang ist das alles recht unangenehm – aber nach einer Weile gewöhnt man sich an das Gewusel. Eine Art unfreiwillige Verhaltenstherapie. Ich verlasse den Tempel rattenfrei, ohne Biss, ohne Spende. Nennen wir’s einen Erfolg.

Am nächsten Tag geht es in die Thar-Wüste. Mein Guide Jito fährt mich raus aufs Land, wir sehen Antilopen, Geier, Adler und passieren einen Kuhfriedhof. In Indien sind Kühe bekanntlich heilig. Sie laufen frei durch Städte und Dörfer, niemand darf sie stören – verspeisen schon gar nicht. Das Leben dieser Tiere ist aber weniger idyllisch als gedacht. Viele ernähren sich von Plastikmüll, den sie auf der Straße finden. Stirbt eine Kuh, wird sie oft abseits des Dorfes abgelegt, wo sich Geier und streunende Hunde um die Reste kümmern. Übrig bleiben Plastikberge und Knochen. Die Knochen werden weiterverwertet – wie genau, will ich lieber nicht wissen.

Höhepunkt der Tour ist ein Kamelritt durch die Wüste. Mein Kamel trägt den Namen Angeli – ein elegantes, etwas müdes Tier mit wettergegerbtem Blick. Hoch oben auf dem Sattel schaukelt man durch Sand und Steppe, vorbei an Lehmhäusern, Kuhdung-Bauten, winkenden Kindern. Das Tempo ist gemächlich, der Sitz unbequem, aber irgendwie passt das zum Tag. Nach einer Stunde halten wir an einem windgeschützten Platz. Mein Kamelführer sammelt ein paar Äste zusammen und entfacht ein kleines Feuer im Sand.

Dann bereitet er Tee zu – Chai, wie ihn hier jede Straßenbude serviert. Dafür nimmt er schwarzen Tee, ordentlich Zucker, einen Schuss frische Milch, dazu Kardamom, Ingwer und ein paar andere Gewürze. Alles wird aufgekocht, dann durch ein Sieb gegossen. Der Tee ist süß, heiß und schmeckt wie flüssiger Zimt mit Pfeffer. Während ich vorsichtig aus dem Blechbecher schlürfe, nimmt der Kamelführer die leere Milchtüte – und verbuddelt sie zielsicher im Sand. Recycling mal anders. Der Moment wirkt nicht mystisch, aber doch recht besonders: Staub in den Schuhen, Sonne im Nacken, Chai im Becher – das ist halt Wüste. Nach dem kurzen Halt geht’s zurück. Angeli trottet weiter, als wäre nie etwas gewesen.

Zurück im Ort bringt mir Jito noch ein paar Brocken Hindi bei: „Wie viel kostet das?“ – „Zu teuer!“ – „Mach’s billiger!“ Er meint, das würde bei Händlern Eindruck schinden und mir Lokaltarife statt Touripreisen einbringen. Ich bin gespannt.

Alte Frau betet Ratte an

Schlepper, Verhandlungen in Hindi und heiliger Kuhmist

Jaisalmer

Weiter geht die Reise – Jaisalmer heißt der nächste Ort, nur rund 100 Kilometer vor der Grenze zu Pakistan. Die sechsstündige Zugfahrt führt mich durch die staubige Thar-Wüste – karge Landschaften, endlose Horizonte, gelegentlich ein paar Dörfer mit Lehmhütten und flatternden Wäscheleinen. Kurz vor der Ankunft dann ein neuer Anblick: der Zug passiert mehrere Militäranlagen, Soldaten stehen mit Gewehr am Gleis. Kein Wunder, das Verhältnis zu Pakistan ist ja bekanntlich… angespannt.

Am Bahnhof wartet mein vorab gebuchter Abholservice. In Jaisalmer sind Hostels eher Mangelware – man schläft in kleinen Pensionen oder günstigen Hotels. 5 bis 10 Euro pro Nacht für ein Einzelzimmer? Kein Problem. Doch an der Rezeption versucht man’s trotzdem: Mein gebuchtes Zimmer sei leider nicht mehr verfügbar, aber – Überraschung – man habe ein anderes, deutlich teureres. Ich bleibe freundlich, aber bestimmt. Drohe, einfach weiterzuziehen. Plötzlich ist mein ursprüngliches Zimmer dann doch wieder da. Welch Wunder.

Über der Stadt thront wie so oft eine mächtige Festung. Besonders an Jaisalmer: Die komplette Altstadt befindet sich innerhalb dieser Mauern – inklusive Hotels, Restaurants, Läden. Klingt romantisch, ist aber ein Problem. Der Wasserverbrauch der heutigen Bewohner bringt die jahrhundertealten Fundamente zum Bröckeln. Risse entstehen, Abschnitte könnten einstürzen. Die Stadt arbeitet an einem Plan zur Stabilisierung, aber ob das reicht, ist fraglich. Die Burg wurde halt nicht für Duschgel, Spülkasten und 24/7-WLAN gebaut.

Ich besichtige den königlichen Palast, der sich direkt im Zentrum der Festung erhebt. Der Raj Mahal war einst Sitz der Maharajas von Jaisalmer und beeindruckt mit geschnitzten Steinbalkonen, kunstvollen Decken und einem weitläufigen Innenhof. Von der Dachterrasse hat man einen großartigen Blick über die goldgelbe Stadt. Im Inneren befinden sich heute mehrere Ausstellungen mit Waffen, Thronen, Gewändern und königlichem Hausrat. Besonders das Treppenhaus mit seinen fein gearbeiteten Gittern und Wandmalereien bleibt im Kopf.

Am Ausgang greift mich ein Schlepper ab. Er heißt Rahul und organisiert mir eine Tempeltour. Sieben Tempel – allesamt Jain-Tempel. Die Religion ist mit dem Hinduismus verwandt, basiert aber stärker auf Askese, Gewaltlosigkeit und striktem Vegetarismus. Die Tempel in Jaisalmer stammen aus dem 12. bis 15. Jahrhundert und sind architektonische Meisterwerke aus gelbem Sandstein. Innen wimmelt es nur so von detaillierten Schnitzereien: Elefanten, Blumenmuster, Götterfiguren – teils so fein gearbeitet, dass man sich fragt, wie das vor 800 Jahren überhaupt möglich war. Rahul erklärt mir jede einzelne Szene, jede Geste, jedes Tier. Nach zwei Stunden weiß ich zwar viel – aber vor allem, dass ich keine sieben Tempel mehr brauche.

Zum Abschluss kurven wir noch auf seinem Motorrad durch die engen Gassen der Altstadt. Ziel: ein altes Haveli, ein Herrenhaus aus der Zeit der Opium- und Gewürzhändler. Die Patwon Ki Haveli sind die bekanntesten dieser Händlerhäuser in Jaisalmer. Gebaut im 18. Jahrhundert, bestehen sie aus fünf miteinander verbundenen Palästen. Ihre Fassaden sind so fein verziert, dass sie wie geschnitzte Honigwaben wirken. Drinnen: luftige Empfangsräume, verborgene Innenhöfe, kunstvoll bemalte Decken und ein paar sehr gut erhaltene Möbelstücke. Sogar ein antiker Ventilator ist dabei – man erkennt: auch früher mochte man’s luftig.

Am Nachmittag streife ich allein durch die Stadt. Ich will Souvenirs – und übe mich im Verhandeln auf Hindi. Mein frisch gelernter Wortschatz sorgt für erstaunte Gesichter – einige Händler lachen, aber sie senken auch direkt den Preis. Manchmal beginnen sie, weiter auf Hindi zu sprechen – dann bin ich raus und muss wieder ins Englische wechseln.

Die Verkäufer sind hartnäckig. Wie in Ägypten wird man in jedes Geschäft gezerrt, als würde man ohne ein paar Tücher oder einen Turban gar nicht überleben. Kurz unaufmerksam, lasse ich mich auf ein Gespräch ein – und zack, trete ich mitten in einen dampfenden Haufen Kuhmist. Erst Ärger, dann Galgenhumor. In Deutschland sagt man: Hundescheiße bringt Glück. Und Kuhfladen? Die sind hier schließlich heilig. Vielleicht wartet ja das ganz große Glück – der Haufen war immerhin beachtlich.

Gerangel, Lassis und Kastenspiele

Jodhpur

Nächster Stopp: Jodhpur. Diesmal geht’s wieder per Bus. Bei Ankunft ist es bereits dunkel und die Tuk-Tuk-Fahrer am Busbahnhof sind in Jagdstimmung. Die wenigen Tourist:innen werden sofort umzingelt – ich werde nervös. Um das Risiko zu minimieren, schnappe ich mir kurzerhand einen Mitreisenden, einen Backpacker aus Argentinien, und schlage vor, sich ein Tuk-Tuk zu teilen. Nicht aus Spargründen – sondern zur moralischen Rückendeckung.

Er stimmt zu, aber schnell wird klar: der Typ ist ein knallharter Verhandler. Es geht um 20 Cent, aber hier wird gefeilscht, als hinge das Bruttosozialprodukt davon ab. Das Resultat: die Fahrer unterbieten sich, beschimpfen sich, es fliegen fast die Fäuste. Ein Tuk-Tuk wird am Losfahren gehindert, jemand zieht am Lenker, der Fahrer schreit. Ich bleibe unversehrt – aber unangenehm ist es trotzdem. Mein Mitfahrer feiert sich für den Deal, ich überlege, ob ich mich unauffällig abseilen kann.

Am nächsten Tag gibt’s dann Sightseeing! Festung, Basar, Altstadt – die Dreifaltigkeit des indischen Tourismus. Jodhpur nennt sich stolz die „Blaue Stadt“, denn viele Häuser wurden irgendwann blau gestrichen. Angeblich gegen Moskitos – oder einfach, weil’s schön aussieht. Jedenfalls leuchten die Gassen in zahllosen Schattierungen von Indigo bis Türkis, besonders eindrucksvoll vom Mehrangarh Fort aus gesehen.

Und das lohnt sich: Das Mehrangarh Fort zählt zu den beeindruckendsten Festungen Indiens. Auf einem 125 Meter hohen Felsen über der Stadt thront die mächtige Anlage, deren Mauern bis zu 36 Meter hoch sind. Erbaut wurde sie im 15. Jahrhundert von Rao Jodha, dem Gründer von Jodhpur. Im Inneren findet man reich verzierte Paläste, kunstvoll bemalte Innenhöfe, Waffen, Sänften, Elefantensättel – alles, was ein Maharadscha-Herz höherschlagen lässt. Der Blick über die blaue Stadt von den Festungsmauern aus: unschlagbar. Nach so viel Kultur gibt’s zur Belohnung Lassi! Das süße, gekühlte Joghurtgetränk gilt in Jodhpur als Spezialität – besonders frisch

und würzig. Ich wage den Selbstversuch direkt am Straßenstand, der Becher kommt im Tontopf, mit Schaumkrone. Köstlich! Ich bestelle direkt einen zweiten. Und – breaking news – meine Verdauung spielt mit. Vielleicht habe ich jetzt den Darm eines echten Inders.

Die Menschen hier sind besonders neugierig. Immer wieder höre ich: “Where are you from? What is your profession? Are you married?” – Fragen, die man im Westen vielleicht als übergriffig empfindet, hier aber ganz normal sind. Dahinter steckt ein tieferer Sinn: Die Antworten helfen, einen Menschen gesellschaftlich einzuordnen. Wer bist du? Was verdienst du? Und – noch wichtiger – welcher Kaste gehörst du an?

Das indische Kastensystem ist eine jahrtausendealte soziale Struktur und tief mit dem Hinduismus verwoben. Ursprünglich entstanden aus religiösen Schriften, unterscheidet man vier Hauptkasten: Brahmanen (Priester, Gelehrte), Kshatriyas (Krieger, Herrscher), Vaishyas (Händler, Bauern) und Shudras (Dienende, Arbeiter). Ganz unten – außerhalb des Systems – stehen die Dalits, früher „Unberührbare“ genannt. Sie übernehmen bis heute Arbeiten, die als unrein gelten: Straßenreinigung, Leichenverbrennung, Latrinenentleerung. In der Theorie ist das Kastensystem seit der Unabhängigkeit 1947 abgeschafft – in der Realität lebt es jedoch weiter. Besonders auf dem Land sind Kastenzugehörigkeit, Heiratsregeln und Berufswahl noch immer stark davon geprägt.

Die neugierigen Fragen auf der Straße sind also mehr als nur Smalltalk. Sie helfen den Leuten, meinen Platz in der gesellschaftlichen Skala zu bestimmen. Und natürlich auch, welchen Preis man mir für ein Tuch, ein Tuk-Tuk oder ein Tandoori nennen kann.

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Lassi auf Eis: Auch ich werde einsortiert – aber immerhin mit einem vollen Magen und sauberen Schuhen. Diesmal kein Kuhfladen. Glück gehabt.

Maßgeschneidertes aus der Stadt der Seen

Udaipur

Mein letzter Stopp im klassischen Rajasthan heißt Udaipur. Ich lasse die trockene Weite der Wüste hinter mir und gönne mir noch 1,5 Tage in dieser bilderbuchhaften Stadt. Udaipur liegt malerisch eingebettet zwischen grünen Hügeln am Ufer des Pichola-Sees. Der künstlich angelegte See wurde bereits im 14. Jahrhundert erschaffen und bildet heute das Herz der Stadt. Direkt darin: das weltberühmte Lake Palace, ein schneeweißes Marmorbauwerk, das wie eine Illusion aus dem Wasser ragt. Einst Sommersitz der Maharadschas, heute ein Luxushotel mit Zimmerpreisen im dreistelligen Bereich – in Dollar, versteht sich. Für mich bleibt es beim Blick vom Ufer, und das ist auch schon spektakulär genug.

Udaipur wird oft als romantischste Stadt Indiens beschrieben – und das kann man nachvollziehen. Die Architektur ist prächtig, viele Gebäude sind reich verziert, mit verwinkelten Innenhöfen, kleinen Balkonen und verzierten Torbögen. Zwischen den Altstadtgassen herrscht das gewohnte indische Gewusel, aber insgesamt geht es hier entspannter zu als in anderen Städten des Landes.

Ausschlafen will ich heute – aber wie eigentlich immer in Indien ist das ein frommer Wunsch. Lärm ist Grundrauschen. Egal, ob das Zimmer Fenster hat oder nicht: Irgendwer lärmt immer. Tuk-Tuks, Hupen, Tempelgesänge, bellende Hunde oder Gäste mit Frühaufsteher-Gene – irgendwas ist immer. Also raus aus dem Bett und rein ins Getümmel.

Beim Spaziergang durch die Stadt fällt mir erneut etwas auf, das ich bereits in vielen Regionen Indiens gesehen habe: Männer, die Händchen halten. Ein vertrautes Bild hier – es zeigt Freundschaft und Nähe, hat aber keinerlei romantische Bedeutung. Auch Umarmungen, sanfte Nackenklopfer oder Schulterstreicheln sind 

gängige Gesten unter Freunden. Auffällig ist dabei der Kontrast zu Beziehungen zwischen Mann und Frau: Öffentliche Zärtlichkeiten sind in der Regel tabu – selbst bei verheirateten Paaren.

Nach einem ausgiebigen Mittagessen am Wasser (mit nur einer Katze am Tisch!) schlendere ich zurück Richtung Gasthaus. Mein Zug zur nächsten Station soll am späten Nachmittag gehen, ich will meinen Rucksack holen. Doch da fällt mein Blick auf eine kleine Schneiderei. Der Verkäufer ruft mir das bekannte Mantra entgegen: „Just looking, sir. No buying!“ Klar. Dass daraus meistens doch ein Kauf wird, weiß inzwischen jeder Tourist – mich eingeschlossen.

Ich lasse mich auf das Gespräch ein. Seit Längerem wollte ich einen maßgeschneiderten Anzug – hier bietet sich die Gelegenheit. Der Schneider zeigt mir verschiedene Stoffe, wir verhandeln in charmanter Hektik. Der Mann beteuert, dass seine Familie seit drei Generationen im Schneiderhandwerk tätig sei. Als Beweis kramt er ein vergilbtes Foto hervor: Vater und Großvater, beide mit Maßband um den Hals. Ich bin überzeugt. Zeit bleibt wenig, aber wir kommen schnell zum Abschluss.

Vermessen werde ich im Akkord, ein paar Maße hier, ein kritischer Blick da. Das Geschäft wird mit einer Tasse Chai Tee besiegelt – wie immer süß, heiß und mit einem kräftigen Schlag Gewürze. Ich erkläre dem Schneider, dass ich Geschäftsmann sei (man weiß ja nie, welche Kaste man hier bedienen will), und verspreche, bei Gefallen nachzubestellen. Er verspricht einen hervorragenden Anzug und nimmt die Adresse auf. Ich zahle vorab – volles Vertrauen in das indische Postsystem und die Ehre des Hauses. Mit einem leichten Kribbeln in der Magengegend und einem imaginären Sakko auf dem Rücken verlasse ich Udaipur. Mein Rucksack bleibt schmal – aber mein Maß an Abenteuer wächst.

Auf Tigerjagd Imit der Kamera)

Ranthambore & Bandhavgarh

Nach den touristischen Klassikern in Rajasthan wird es jetzt etwas abenteuerlicher. Ich will ins Landesinnere – fernab der klassischen Reiserouten – und mein Glück bei der Tigerbeobachtung versuchen. Zwei Nationalparks stehen auf dem Plan: Ranthambore und Bandhavgarh.

Zuerst geht es nach Ranthambore, was mit 7 Stunden Busfahrt noch als „relativ einfach zu erreichen“ durchgeht. Die ersten Tiere sehe ich bereits im Ort selbst – Wildschweine streifen durch die Straßen und durchwühlen die Müllberge am Straßenrand. Die Safari-Tage beginnen früh. Ich fahre mit dem offenen Jeep durch atemberaubende Landschaften: steinige Hügel, trockene Flussbetten, knorrige Bäume. Ich sehe Hirsche, Rehe, Krokodile, unzählige Vögel, sogar eine Wildkatze und einen Schakal. Nur der König des Dschungels lässt sich nicht blicken. Der Tiger bleibt verschwunden – irgendwo da draußen, perfekt getarnt im hohen Gras. Das ist enttäuschend, aber ich habe ja noch eine zweite Chance.

Ranthambore war einst königliches Jagdgebiet und wurde 1980 zum Nationalpark erklärt. Das Terrain ist spektakulär – trockene Wälder, Felsplateaus, kleine Seen und mittendrin die Ruinen einer alten Festung. Der Park gehört zu den populärsten Tigerschutzgebieten Indiens und war Teil des Projekts Project Tiger, das 1973 vom indischen Staat ins Leben gerufen wurde, um die damals stark dezimierte Tigerpopulation zu retten. Heute leben hier rund 60–70 Tiger, dennoch ist eine Sichtung nie garantiert.

Nächste Station: Bandhavgarh Nationalpark. Die Anreise ist hart – eine 24-Stunden-Tortur mit Umstieg und vier Stunden Aufenthalt am Bahnsteig. Und da ist einiges los: Eine gefühlte Million Menschen sitzt, schläft, isst oder lärmt um mich herum. Essensreste und Plastik fliegen routiniert auf die Gleise – Mülltonnen gibt’s keine, Platz sowieso nicht. Ratten kommen zum Zuge, ein Mann sammelt Plastikflaschen zur Wiederverwertung, zwei heilige Kühe trotten durch die wartende Menschenmasse und betteln um Reste. Die Reaktion fällt eher unfreundlich aus – obwohl Kühe heilig sind, ist Teilen mit ihnen wohl keine Pflicht.

Ich schlage mich zur Toilette durch, finde sie nach 20 Minuten und bereue den Weg sofort. Das Ritual ist eingeübt: Luft anhalten, so wenig wie möglich anfassen, hoffen, dass man nicht zurück muss. Zum Glück läuft wenigstens der Wasserhahn, und mein mitgebrachtes Reinigungsgel ist mal wieder mein bester Reisebegleiter.

Um 5:24 Uhr am nächsten Morgen komme ich an, ein Fahrer wartet schon. Es sind noch 30 Kilometer bis zum Hotel, Ankunft 6:05 Uhr. Um 6:20 Uhr beginnt die erste Safari – ohne Frühstück, ohne Pause. Ich bin müde, übernächtigt und friere mir bei knapp über Null Grad den Hintern ab. Zwei Kinder stehen frierend am Straßenrand an einem kleinen Feuer – kaum Kleidung, keine Schuhe. Ich gebe ihnen meine Kekse und Schokoriegel. Klar, das ist nur eine Geste, aber besser als nichts. Und es hinterlässt einen Stich im Magen, wenn man das Elend direkt neben der eigenen Luxusaktivität sieht.

Bandhavgarh gilt als einer der besten Orte, um Tiger in freier Wildbahn zu sichten – zumindest statistisch gesehen. Der Park liegt im Bundesstaat Madhya Pradesh und ist deutlich weniger touristisch erschlossen als Ranthambore. Seine dichte Vegetation, Hügelketten und Bambuswälder machen ihn landschaftlich besonders reizvoll. Auch er ist Teil von Project Tiger – und war ursprünglich ein königliches Jagdrevier. Heute leben hier etwa 60–65 Tiger, darunter auch die berühmte Tigerlinie, die einst vom legendären Männchen Charger begründet wurde – dem wohl bekanntesten Tiger Indiens.

Die Safari beginnt. Wir finden frische Spuren, hören Warnrufe von Vögeln und Hirschen – deutliche Anzeichen, dass ein Tiger ganz in der Nähe sein muss. Aber wieder: kein Glück. Vier Stunden lang starren wir ins Dickicht, doch keine Sichtung. Ich bin frustriert, aber es bleibt eine letzte Nachmittagsrunde.

Wieder Spuren, wieder Aufregung. Ich denke nur: „Ich will keine Tatzenabdrücke mehr sehen, ich will die Tatze sehen!“ Wieder Rehe, wieder Spannung. Ich beschließe, ab sofort nur noch Rehe zu fotografieren, wenn sie sich im Maul eines Tigers befinden. Doch auch diese letzte Safari endet ohne Sichtung.

Zwei Parks, mehrere Safaris, zig Rehe – null Tiger. Man muss es wohl als Teil des Spiels sehen. Das Glück war nicht auf meiner Seite. Dafür habe ich viel gesehen, einiges erlebt – und wieder ein bisschen mehr verstanden von diesem wilden, widersprüchlichen, faszinierenden Indien.

Zur Lage der Tiger in Indien: Noch in den 1970ern standen Indiens Tiger kurz vor dem Aussterben – Wilderei und Lebensraumverlust hatten die Population drastisch reduziert. Dank staatlicher Schutzprogramme wie „Project Tiger“ leben heute wieder über 3.000 Tiger in Indien, was etwa 75 % der weltweiten Population ausmacht. Doch auch wenn die Zahlen wieder steigen, bleibt der Schutz dieser majestätischen Tiere ein sensibles und dringliches Thema.

Dann ging es auf den Ganges

Varanasi

Letzte Station in Indien. Letzte Station überhaupt auf meiner 3,5-monatigen Reise: Varanasi. Und was soll ich sagen – dieser Ort ist wirklich abgefahren. Varanasi ist eine der ältesten durchgehend bewohnten Städte der Welt, vermutlich über 3.000 Jahre alt, und gilt als eine der heiligsten Stätten des Hinduismus. Wer Indien verstehen will, muss hierherkommen – oder zumindest versuchen, den Ort zu erfassen.

Die Stadt liegt am heiligen Ganges, dem spirituellen Herzschlag Indiens. Für gläubige Hindus ist ein Bad im Fluss ein Akt der Reinigung – nicht körperlich, sondern seelisch. Man wäscht sich die Sünden ab, nimmt rituelle Waschungen vor oder streut die Asche der Verstorbenen ins Wasser. Auch Buddhisten und Jains schätzen die Stadt für ihre spirituelle Bedeutung, doch besonders für Hindus ist ein Leben oder gar ein Tod in Varanasi von höchster religiöser Bedeutung: Wer hier stirbt und verbrannt wird, durchbricht nach dem Glauben den Kreislauf der Wiedergeburt und erreicht das Moksha – die Erlösung.

Entlang des Ufers reihen sich über 80 sogenannte Ghats – breite Steinstufen, die hinunter zum Wasser führen. Sie dienen als Badeplätze, Gebetsorte, Waschzonen, Bootsanleger oder auch Verbrennungsstätten. Hier spielt sich das religiöse und soziale Leben der Stadt ab.

Dass der Ganges massiv verschmutzt ist, ist bekannt – und sichtbar. Kolibakterienwerte, die den Grenzwert um das Dreißigfache übersteigen, ungeklärte Abwässer, industrielle Chemikalien, tote Tiere und menschliche Überreste. Der Fluss ist eine Kloake – und gleichzeitig heiliger Ort. Ein Widerspruch, mit dem hier viele leben – oder nicht anders kennen.

Ich spaziere entlang des Ufers, beobachte Menschen, die im grünbraunen Wasser baden, sich von Sünden und Alltagsschmutz reinigen. Viele tauchen mehrfach unter, schäumen sich mit Shampoo ein und klopfen sich danach das 

Wasser vom Körper. Ich denke mir: Wer hier badet und es überlebt, wird entweder nie wieder krank – oder uralt. Später sehe ich zwei Engländer, die sich den Pilgern anschließen. Mutig, mutig. Immer diese Engländer. Ich hab mal im Nil gebadet, das reicht mir.

Ein Stück weiter gelange ich zum Manikarnika Ghat, dem bekanntesten der sogenannten Burning Ghats. Hier finden täglich Verbrennungszeremonien statt. Tote Körper werden auf Holzscheite gelegt, angezündet, die Asche anschließend in den Ganges gestreut. Ein krasses Schauspiel – fremd, intensiv, aber auch würdevoll. Fotografieren ist hier streng verboten – und das ist auch gut so. Man schaut, schweigt, denkt nach.

Rund um die Ghats pulsiert das Leben. Frauen waschen Wäsche und Geschirr im Fluss, Männer treiben Wasserbüffelins Wasser, Bettler, Sadus, Kinder, die um Geld bitten – das Spektakel kennt kaum Grenzen. Ich will ein paar alte T-Shirts verschenken. Ein Junge lehnt ab, fragt nach Rupien. Dann bekommt eben ein anderer mein zu groß geratenes Spendenangebot.

Ich gönne mir eine Bootsfahrt auf dem Ganges, lasse mich entlang der Ghats rudern. Vielleicht mein Reise-Highlight. Der Blick vom Wasser aus ist fantastisch: man sieht Pilger beten, Touristen meditieren, Sadus mit Farbe auf der Stirn posieren, Yoga in Zeitlupe am Ufer. Spirituelle Selbstverwirklichung trifft auf Massenandacht.

Heute ist mein letzter Tag in Indien. Der letzte Tag dieser Reise überhaupt. Indien war alles – ein Traum und ein Albtraum für die Sinne. Voller Farben, voller Lärm, voller Gerüche – gute wie schlechte. Voller magischer Momente, aber auch voller Dreck, Elend und Überforderung.

Morgen fliege ich nach Hause. Ich werde als Erstes duschen. Lange. Dann wasche ich meine gesamte Kleidung bei 60 Grad, meine Schuhe kommen direkt in den Müll.

Indien war… incredible. Wirklich.

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Das war Indiens Goldenes Dreieck und Rajasthan! 

Nach Wochen zwischen Festungen, Ratten und Lassis ist klar: Indien ist kein Urlaub, es ist ein Erlebnis. Es gibt keine Pause – aber unzählige Eindrücke. Ich bin müde, beeindruckt und froh, wieder heiß duschen zu können. Aber vor allem bin ich: dankbar. Für diese irre Reise durch ein Land, das man nur lieben und fluchen kann.