Das Abenteuer beginnt dort, wo der Süden wild wird: mit kaputtem Auto, Zelt im Gepäck und dem Wind als ständiger Reisebegleiter. Zwischen schneebedeckten Vulkanen, wanderfreudigen Gletschern und guanacobeobachtenden Mini-Treks entfaltet sich Patagonien – weit, eindrucksvoll und manchmal einfach unglaublich schön.
Es lo que hay...
Concepción / Chile
„Es lo que hay“ – ein chilenisches Alltagsmantra, das man schnell lernt: So ist es eben. Wenn Pläne schiefgehen, wenn Dinge anders laufen als gedacht – hilft kein Jammern, nur Schulterzucken und Weitermachen. Und das trifft auf unseren Start in Patagonien so gut wie auf kaum etwas sonst.
Nach einigen Tagen in Concepción – oder „Conce“, wie es die Einheimischen nennen – ist alles bereit für den großen Aufbruch: Die Route in den Süden steht, das Zelt ist neu, der Tank voll, das Auto reisefertig. Wir wollen in aller Frühe aufbrechen, denn die erste Etappe bis San Martín de los Andes in Argentinien soll etwa acht Stunden dauern. Genug, um im Hellen anzukommen und in Ruhe das Lager aufzuschlagen.
Aber: Reisen in der Gruppe ist Demokratie. Und Demokratie kann langsam sein. Am Abend vor der Abfahrt stimmt die Mehrheit für: ausgehen. Ausgehen wird zu feiern. Feiern endet um fünf Uhr morgens. Mein Veto wird überstimmt – so viel zum Thema frühes Aufbrechen.
Am nächsten Vormittag schlafen wir aus, frühstücken in Ruhe, räumen das Auto ein – und sitzen schließlich um 12:30 Uhr auf der Straße. Mit mehr Koffein als Schlaf im Blut, aber voller Vorfreude. Kurz gesagt: besser spät als nie.
Diese Freude hält ziemlich genau 80 Kilometer. Dann steigt Rauch aus dem Armaturenbrett. Mitten auf der Schnellstraße legen wir einen Notstopp ein. Es riecht verschmort, das Cockpit glüht – und Patagonien ist auf einmal sehr weit weg. Immerhin hat Chile einen Standstreifen.
Wir rollen aus und stehen bald in der flirrenden Mittagshitze. Keine Wolke, kaum Schatten, aber ein Satz, der sofort in der Luft liegt: Es lo que hay. Einer von uns ruft den Mechaniker seines Vertrauens an, Lucho, der sich umgehend auf den Weg macht. Während wir warten, bauen wir aus einem Schlafsack einen improvisierten Sonnenschutz und bereiten Tererézu – eine kalte Variante von Mate mit Saft, halb Notlösung, halb Lebensretter.
Nach zwei Stunden trifft Lucho ein. Er kommt nicht allein, sondern bringt zwei Bekannte mit – was die Reparatur zur kleinen Gesellschaftsveranstaltung macht. Wir steigen zu ihm ins Auto, das kaputte Fahrzeug wird abgeschleppt – zumindest kurz. Denn irgendwann stellen wir fest, dass das Seil gerissen ist. Wir haben Auto und zwei unserer Gruppe unterwegs verloren. Ein Moment zwischen Lachen und Kopfschütteln. Natürlich kehren wir um.
Als wäre das alles nicht schon absurd genug, schlägt Lucho vor, uns auf dem Rückweg noch den Salto del Laja zu zeigen – einen der größten Wasserfälle Chiles. Eigentlich fehlt uns die Zeit, aber irgendwie hat dieser Tag längst seine eigene Logik. Also stehen wir wenig später vor tosendem Wasser, inmitten von Ausflugsgästen und Gischt – während unser defektes Auto weiter hinten wartet.
Am Abend ist klar: Mit dem Auto wird das nichts. Wir organisieren Bustickets. Die große Patagonienreise startet einen Tag später – mit anderem Verkehrsmittel, aber gleichem Ziel.
Es lo que hay. Manchmal läuft’s anders. Aber oft ist genau das der Beginn von Geschichten, die man nie vergisst.

Am Fuße des Vulkans
Villarrica / Chile
Nach dem gescheiterten Startversuch mit dem Auto und der Abschiedsrunde in Concepción (übrigens: ich war jetzt schon zwei Mal dort – zählt das als Lokalstatus?), geht’s zurück zum Busbahnhof. Diesmal mit festem Ziel: San Martín de los Andes. Doch natürlich ist der Bus ausgebucht. Klar! Warum auch sollte mal etwas direkt klappen? Also verbringen wir noch einen ungeplanten Zusatztag in Conce und wagen tags darauf einen neuen Anlauf. Und siehe da: Wir sitzen im Bus. Es geht endlich los!
Ein Zwischenstopp führt uns in das charmante Städtchen Villarrica, idyllisch gelegen am gleichnamigen See – und direkt zu Füßen des majestätischen Vulkan Villarrica, der mit seiner schneebedeckten Kuppe aussieht, als wäre er einem Lehrbuch für Postkarten entsprungen. Hier lassen wir uns für eine Nacht in einer kleinen Cabaña (Bungalow mit Holz-Charme) nieder.
Villarrica überrascht. Es erinnert mit seiner ruhigen Atmosphäre und seinen Häusern im Alpenstil an die Schweiz – oder an Süddeutschland. Kein Zufall: Die deutsche Einwanderung ist in dieser Region deutlich spürbar, nicht nur im Baustil, sondern auch in den Bäckereien. Willkommen in Patagonien light!
Am Nachmittag schlendern wir durch den Ort, landen am Seeufer und genießen den Blick auf den rauchenden Vulkan.
Mein argentinischer Reisegefährte zückt natürlich sein Mate-Set – wie immer. Inzwischen hat auch er das Land nicht mehr ohne Thermoskanne und Kalebasse betreten. Der Ablauf ist klar: Tee rein, heißes Wasser drauf, Bombilla rein – und dann geht der Becher reihum. Kultig! Und ja, auch ich fange langsam an, diesen bitteren Kräutersud zu mögen. Vielleicht ist es das Ritual. Vielleicht ist es die Aussicht. Vielleicht auch einfach Reise-Hirnchemie.
Den Abend verbringen wir entspannt in unserer Cabaña. Ich schwinge den Kochlöffel und zaubere Spaghetti Bolognese. Alle sind zufrieden. Sogar die Gruppendynamik hat sich beruhigt – Diskussionen werden weniger, der Reisealltag flutscht. Irgendwie erinnert mich die Situation an meine Kindheit: Ostseeurlaub in Binz oder Barth, Ferienhaus, Selbstverpflegung, Dosenbolognese und das Glück der Einfachheit. Es braucht nicht viel – nur gute Stimmung, einen dampfenden Topf auf dem Tisch und vielleicht einen rauchenden Vulkan im Hintergrund. Mehr Abenteuerromantik geht kaum.
Am nächsten Morgen verabschiedet sich Villarrica mit einem kleinen Rauchwölkchen aus seinem Krater. Der Vulkan ist noch aktiv – aber friedlich. Nach Waldbrand und Mini-Erdbeben brauchen wir auch keinen weiteren Adrenalinschub. Es geht weiter gen Süden. Die große Reise beginnt jetzt erst richtig.

San Martín de los Andes für Anfänger – Zelte, Pferde, Parasiten
San Martín de los Andes / Argentinien
„Wenn ein Wolf im Wald einem Wolf begegnet, denkt er: ‚ist bestimmt ein Wolf.‘ Wenn aber ein Mensch im Wald einem Menschen begegnet, denkt er: ‚ist bestimmt ein Mörder.‘“ – So oder ähnlich hat es mal Stromberg gesagt. Und ganz ehrlich: Er hat einen Punkt. Deshalb bestehe ich auf einen offiziellen Campingplatz statt Wildcampen im dunklen Wald. Sicherheit geht vor – auch wenn’s nur gegen eingebildete Axtmörder ist.
San Martín de los Andes liegt idyllisch am Rand der Anden und gilt als nördliches Tor Patagoniens. Die Landschaft ist ein Traum: Berge, Wälder, Seen – und dazwischen Wanderer, Trekking-Profis, Rucksacktouristen. Die Preise steigen mit der Höhe, aber wir sind vorbereitet. Die berühmte Siete Lagos (Sieben Seen) Route beginnt hier – kristallklare Gewässer inmitten eines Nationalparks, überragt vom schneebedeckten Vulkan Lanín. Der über 3.700 Meter hohe Koloss sieht beeindruckend aus, aber wir verschieben den Vulkonaufstieg lieber – vielleicht beim nächsten.
Unser Zelt – ein echtes Qualitätsprodukt aus Deutschland – wird im Nu aufgebaut. Ein Studienfreund, der das Auto besitzt, hatte vorher noch auf sturmsichere Ausrüstung gepocht: bis zu 150 km/h Wind seien hier keine Seltenheit. Also schleppe ich extra ein gutes Zelt aus Berlin an – teuer, aber stabil. Umso schöner, als der gleiche Freund nun mit einem günstigen Modell aus dem Supermarkt aufkreuzt. Patagonien-Test bestanden? Wir werden sehen.
Tags darauf satteln wir um – im wahrsten Sinne. Auf einer Ranch starten wir einen Ausritt im Gaucho-Stil. Unser Guide Juan, eine argentinische Reiterin, drei Mitreisende und ich – das sind die
Glorreichen (argentinischen) Sieben. Ich wähle das größte Pferd: Callejera, edel, stark, leicht schreckhaft. Nach kurzer Übung klappt’s ganz gut: Vorwärts, rückwärts, lenken, bremsen – läuft. Wir reiten durch Bachläufe, dichte Wälder, bergige Pfade. Ein bisschen Wildwest-Feeling, ein bisschen Postkarten-Patagonien. Schön ist es!
Der Plan für den nächsten Tag: Wanderung mit Aussicht. Leider macht mein Magen nicht mit. Am Vorabend schlägt der südamerikanische Verdauungsblitz ein. Plötzlich, heftig, ohne Vorwarnung. Die Symptome: kalter Schweiß, bleiches Gesicht, Krämpfe – der Klassiker. Irgendwie schleppe ich mich zur Toilette und verbringe den Großteil der Nacht damit, Freundschaft mit dem Klo zu schließen.
Zwischen Fieber, Durchfall und Zeltstickigkeit kommt dann die Erkenntnis: Das wird nichts. Also ziehe ich ins Hostel um. Mit richtiger Matratze, eigenem Bad – und Luft. Die paar Pesos mehr sind gut investiert. Schließlich müsste man über 200 Jahre campen, damit sich das Zelt amortisiert. Mein Urteil: Camping – vielleicht nicht mein Ding.
Während ich mich kuriere, zieht der Rest der Gruppe los – Gipfel stürmen. Abends kehren sie müde zurück, ohne Aussichtsfoto. Der Weg war unklar, der Anstieg anstrengend, und ein wild gewordener Bulle blockierte die Passage. Ich begrüße sie, sauber und erholt, und denke mir: Manchmal ist Timing eben alles.
Morgen geht’s weiter nach San Carlos de Bariloche – der nächste Stopp auf unserer Patagonien-Reise.

Bariloche bei Tag, Boliche bei Nacht
Bariloche / Argentinien
Mit dem Bus geht es von San Martín entlang der traumhaften Siete Lagos nach Bariloche. Dass dabei schon erste Schotterpisten zu bewältigen sind, überrascht – damit hatten wir eigentlich erst später gerechnet.
Bariloche, am Ufer des Lago Nahuel Huapi gelegen, wird von einem spektakulären Bergpanorama eingerahmt. Direkt angrenzend beginnt der Parque Nacional Nahuel Huapi, der beste Bedingungen zum Wandern, Raften, Mountainbiken und mehr bietet. Zwei aus der Gruppe – sagen wir mal, die Fittesten – machen sich auf, den Cerro López zu erklimmen, während der Rest den Vortag in den Beinen spürt und lieber eine Pause einlegt.
Der Aufstieg wird durch zahlreiche Fotopausen angenehm unterbrochen – offiziell natürlich wegen der Aussicht, inoffiziell wegen des Lufthungers. Während der eine keucht, vermisst der andere die Herausforderung. Unterwegs treffen wir auf Wanderpärchen aus Holland und Italien. Die sportliche Rivalität ist damit geweckt: Jetzt erst recht vor unseren europäischen Nachbarn oben ankommen! Nach 2,5 Stunden erreichen wir das Refugio und werden mit einem atemberaubenden Blick über die Seenlandschaft belohnt. Der zweite Platz hinter den Italienern ist dabei fast vergessen – der Kuchen im Gipfelhäuschen hilft zusätzlich.
Auf den letzten Metern begegnen uns noch ein paar Einheimische – in Badelatschen, mit Plastikflaschen, am späten Nachmittag auf dem Weg nach oben. Ganz entspannt eben – argentinischer Style! Wir hingegen verlieren kurz vorm Ziel den Weg und kraxeln den letzten Abschnitt querfeldein steil nach unten. Nichts passiert, aber: Au Backe!
Nach der Wanderung geht’s weiter nach Colonia Suiza, ein
hübsches kleines Dorf mit deutlichen deutsch-schweizerischen Einflüssen. Die Leckereien dort sind zwar köstlich, aber auch arg überteuert. Der Bus bringt uns später zurück nach Bariloche – mit mehreren wohlverdienten Nickerchen inklusive.
Da Bariloche für sein wildes Nachtleben bekannt ist, wollen wir es uns natürlich nicht nehmen lassen, auch hier als pflichtbewusste Touristen aufzutreten. Anfangs sind wir so müde, dass keiner sich traut, das „Jetzt-bleiben-wir-einfach-zu-Hause“ laut auszusprechen. Aber irgendwer zieht’s dann doch durch, wir beißen alle in den sauren Apfel – und finden uns wenig später in einer Disko, hier Boliche genannt, wieder. Die ersten Rum-Cola helfen, dann läuft alles wie von selbst, bis in die frühen Morgenstunden.
Am letzten Tag dann: Ein Kriminalfall. Die Mütze meines Mitreisenden ist weg. Und ich werde bezichtigt, sie stibitzt zu haben. Zum Glück gibt es eine Art Beweisführung:
Top 10 Zitate des besagten Mitreisenden:
- „Scheiße, wo ist mein Portemonnaie?“
- „Alter, wo hab ich denn jetzt die Karten hingepackt?“
- „Wo sind die Fahrscheine?“
- „Mist, meine Kreditkarte ist weg!“
- „Hat jemand meinen Schlüssel gesehen?“
- „Ich finde meine Jacke nicht!“
- „Kacke, ich hatte doch noch 50 Peso in der Tasche!“
- „Fuck, wo hab ich das Telefon bloß hingelegt!“
- „Scheiße, das hab ich total vergessen!“
- „Kann ich mal deine Taschenlampe haben, ich finde meine nicht!“
Eindeutiger Fall von Eigenverschulden. Die Mütze bleibt verschwunden – und ich offiziell entlastet.

Whisky on the Rocks – Perito Moreno hautnah
El Calafate / Argentinien
El Calafate – benannt nach der tiefblauen, stacheligen Calafate-Beere – ist ein verschlafenes Nest am südlichen Rand der Anden. Die Hauptstraße ist überschaubar, der Wind eiskalt, die Preise gesalzen. Doch wer hierher kommt, hat ein klares Ziel: den Perito-Moreno-Gletscher, eines der großen Naturwunder Südamerikas – und laut Einheimischen „der Gletscher, der lebt“.
Etwa 80 Kilometer westlich der Stadt beginnt der Parque Nacional Los Glaciares, UNESCO-Welterbe und Heimat von über 300 Gletschern. Doch keiner zieht die Menschen so in den Bann wie der Perito Moreno. Mit seinen rund 250 km² Fläche, einer Höhe von 60 Metern über dem Wasser und einer Länge von 30 Kilometern wirkt er wie eine erstarrte Welle aus Zeit. Was ihn besonders macht: Während Gletscher weltweit schrumpfen, bleibt dieser hier stabil – und wächst sogar langsam. Täglich rückt er bis zu zwei Meter vor, bis riesige Eisbrocken unter Donnern in den türkisfarbenen Lago Argentino kalben.
Da sich zwei meiner Reisegefährten lieber im Warmen aufhalten, schließe ich mich allein einer organisierten Gletscherwanderung an. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe geht es mit dem Boot zur Südseite des Eises. Schon aus der Ferne wirkt die gezackte Wand des Gletschers wie eine bizarre Eisstadt mit Zinnen, Türmen und Schluchten.
Bevor wir losstapfen, bekommen wir eine Sicherheitseinweisung – und Steigeisen. Damit bewegt man sich im sogenannten "Pinguin-Gang" über das Eis: breitbeinig, langsam, konzentriert. Es geht über blaue Spalten, schmale Grate und gefrorene Wellen. Unser Guide erklärt, wie komprimierter Schnee über Jahre zu Eis wird, wie sich durch Druck und Sauerstoff die blaue Färbung bildet und warum dieser Gletscher „arbeitet“ wie ein Fließband.
Trotz eisiger Temperaturen kommen wir schnell ins Schwitzen. Die Landschaft ist surreal – überall knackt und knirscht es. Man hört, wie das Eis lebt. Nach etwa zwei Stunden Wanderung erreichen wir eine kleine, gut vorbereitete Überraschung: ein Tisch mit Whisky und Gletschereis. Ja, richtig gelesen – hier oben wird angestoßen. Ich bekomme einen Eispickel in die Hand, hacke stilecht ein paar Stücke Eis aus der Umgebung, die dann in unsere Gläser wandern. Ein Toast auf die Absurdität des Moments.
Zurück am Gletscherufer passiert das, worauf alle hoffen: Ein riesiger Eisblock bricht unter lautem Donnern ab und kracht in den See. Die Wucht ist beeindruckend, das Geräusch durch Mark und Bein. Kurz schwappt eine kleine Welle heran. Ich denke: Glück gehabt – ein bisschen Nasswerden wäre das kleinere Übel gewesen.
Am Nachmittag geht es mit dem Boot zur Nordseite, wo ein Steg die Aussicht auf das Gletscherpanorama freigibt. Hier kann man den Gletscher in voller Breite und von oben betrachten. Immer wieder lösen sich kleinere Brocken und stürzen donnernd in den See. Die Szenerie ist hypnotisch – man könnte stundenlang zusehen.
Am Abend sitzen wir in El Calafate bei einem patagonischen Asado. Statt Rind gibt’s diesmal Lamm, über dem offenen Feuer gegart – eine Spezialität der Region. Nach einem Tag voller Eis, Wind, Staunen (und Whisky) schmeckt das rustikale Mahl wie ein Festessen. Es ist einer dieser Reisetage, an dem einfach alles passt: das Timing, das Wetter, der Ort – und das Gefühl, etwas Großes gesehen zu haben.
Torres del Paine - Natur mit Seitenwind
Puerto Natales / Argentinien
Nach nur fünf Stunden Busfahrt erreiche ich Puerto Natales. Ein windgepeitschtes Städtchen am Fjord, das so aussieht, als hätte jemand die Kulisse für einen Western an den Rand der Welt verpflanzt. Die Straßen leer, die Dächer aus Blech, das Wetter wechselhaft wie ein Teenager. Hier beginnt für viele die Tour zu einem der größten Naturwunder Chiles: den Torres del Paine.
Das Gebirgsmassiv ist – man kann es nicht anders sagen – einfach spektakulär. Drei gigantische Granittürme, bis zu 3.000 Meter hoch, ragen wie aus dem Nichts in den Himmel. Der Name bedeutet auf Mapudungun, der Sprache der indigenen Mapuche, so viel wie blaue Türme – benannt nach der Farbe, die sie bei bestimmtem Licht annehmen.
Geologisch gesehen sind die Torres ein ziemlicher Exot: Sie gehören nicht zu den Anden. Statt durch das typische Aufeinanderprallen von Kontinentalplatten entstanden sie aus einem Magmastrom, der sich vor Millionen Jahren tief unter der Erdoberfläche abkühlte. Die weicheren Gesteinsschichten um das Magma wurden im Laufe der Jahrmillionen durch Wind und Wetter abgetragen – übrig blieben diese dramatisch schroffen Granittürme. Ein Naturdenkmal, das aussieht wie von Außerirdischen vergessen.
Ich entscheide mich für eine Tagestour, um zumindest einen Eindruck vom Massiv zu bekommen. Die volle 7-Tage-Trekkingrunde spare ich mir – irgendwer muss ja auch die Kurzversion für Normalsterbliche testen.
Der Wettergott serviert prompt die ganze Palette: Wind, Regen, Sonne, Wolken, horizontaler Niesel – alles innerhalb von Minuten. Willkommen in Patagonien! Trotzdem: Der Anblick der Torres, wie sie plötzlich aus dem Nebel auftauchen, ist jede durchnässte Socke wert. Während eines Mini-Treks durchstreifen wir die Steppe, sehen Guanacos, die wirken wie elegante Lamas auf Diät, und sogar einen Andenfuchs, der stoisch vor sich hin posiert. Kamera raus, Foto gemacht, Naturdoku live.
Zurück in Puerto Natales lasse ich den Tag in einem gemütlichen Hostel ausklingen. Frühstück gibt’s dort auch – und zwar so richtig, mit Obst, Eiern und allem Drum und Dran. Man scheint hier begriffen zu haben, dass hungrige Wanderer keine glücklichen Wanderer sind.
Und so endet mein kurzer, aber intensiver Abstecher in die chilenische Bergwelt. Die Torres del Paine sind kein Spaziergang – aber ein Erlebnis, das man nicht vergisst. Jetzt geht’s weiter: ans sprichwörtliche Ende der Welt.
Auf Magellans Spuren
Punta Arenas / Chile
Ganz im Süden Chiles, fast schon am Ende der Welt, liegt Punta Arenas – an der berühmten Magellan-Straße. Hier segelte im Jahr 1520 der portugiesische Seefahrer Ferdinand Magellan unter spanischer Flagge vorbei, auf der Suche nach einem westlichen Seeweg zu den Gewürzinseln. Als seine Mannschaft nachts entlang der Küste flackernde Feuer sah, deutete man diese als Zeichen menschlicher Präsenz – und gab der unwirtlichen Inselgruppe südlich der Meerenge den Namen: Tierra del Fuego, Feuerland.
Die Region war bis zur Ankunft der Europäer die Heimat mehrerer indigener Gruppen, darunter die Selk'nam, Yaghan, Kawésqar und Haush. Sie lebten in teils extremen Klimabedingungen, mit jeweils sehr unterschiedlichen Lebensweisen: Die einen als Jäger im Landesinneren, andere als Seenomaden in einfachen Kanus. Ihre Kulturen waren eng mit der Natur verbunden, über Generationen hinweg hatten sie sich an das raue Leben in Südpatagonien angepasst.
Mit dem europäischen Kontakt begann jedoch ein tragisches Kapitel. Krankheiten, die von den Kolonisten eingeschleppt wurden, dezimierten die Bevölkerung massiv. Noch schlimmer: Als europäische Schafzüchter Ende des 19. Jahrhunderts
begannen, Feuerland zu besiedeln, kam es zur gewaltsamen Verdrängung und Ausrottung der Ureinwohner – viele wurden schlicht als "Störung" gesehen, manche sogar für Kopfgeld gejagt. Besonders die Selk'nam, die einst den Norden Feuerlands bevölkerten, wurden systematisch verfolgt. Heute erinnern Museen und Denkmäler an diese dunkle Geschichte – ein erschütternder Teil des kolonialen Erbes, der lange verdrängt wurde.
Ich selbst unternehme in Punta Arenas eine kleine Bootstour zur Magellan-Pinguinkolonie. Zwar ist das Wetter rau, der Wind schneidend – aber immerhin bekomme ich einen Eindruck von der kargen Schönheit dieser Region. Am Ufer stehen die Pinguine wie Denkmalfiguren in der Landschaft, unbewegt, stur im Wind. Die Szenerie wirkt fast surreal – fast schon ein Sinnbild für diesen letzten Zipfel Südamerikas: still, hart, faszinierend.
Unser Guide liefert zum Abschied noch ein paar Infos zur Magellanstraße, zur Geografie und zur Seefahrtsgeschichte – ich notiere mir das meiste im Kopf, auch wenn mich am Ende vor allem eins beeindruckt: Wie viel Geschichte in dieser scheinbar so stillen Ecke der Welt steckt.

Am Ende der Welt angekommen
Ushuaia / Argentinien
Nach dem eher enttäuschenden Pinguinbesuch in Punta Arenas geht es zurück nach Argentinien – auf die letzte Patagonien-Etappe. Die rund zwölfstündige Busfahrt zieht sich, aber die Landschaft lenkt zum Glück davon ab.
Ushuaia liegt am Beagle-Kanal und ist die südlichste Stadt der Welt – danach kommt nichts als Wind, Wellen und Antarktis. Wer einmal auf einem Globus nachschaut, wird feststellen: Viel weiter runter geht wirklich nicht. Kein Wunder also, dass einem beim Spaziergang durch die Stadt schon mal schwindelig wird – bei so viel Weltende-Flair.
Die Hauptstadt der Provinz Tierra del Fuego, also Feuerland, liegt eingebettet zwischen Bergen und Meer. Der Name Ushuaia stammt aus der Sprache der Yámana und bedeutet sinngemäß "Bucht, in der die Sonne aufgeht". Und tatsächlich: Die Lichtstimmungen hier sind einzigartig. Das Wetter ändert sich stündlich – auf strahlenden Sonnenschein folgt Nebel, Wind oder Regen. Und dann wieder blauer Himmel. In Ushuaia lebt man nach dem Prinzip: alles einpacken – Sonnenbrille, Regenjacke, Mütze.
Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, den berühmten Beagle-Kanal selbst zu befahren – benannt nach dem Forschungsschiff, mit dem Charles Darwin hier 1833 entlang segelte. Die Tour führt vorbei an Inseln mit Kormoranen und Seelöwen, einem alten Leuchtturm und schließlich zur großen Pinguinkolonie. Dutzende Magellan-Pinguine watscheln umher, planschen im Wasser oder halten sich den Wind um die Flossen. Diesmal ist die Stimmung besser als in Punta Arenas – das Wetter hält und die Tierwelt zeigt sich von ihrer Schokoladenseite.
Doch das eigentliche Highlight der Fahrt ist nicht tierischer, sondern himmlischer Natur: Während an einer Stelle tiefblauer Himmel leuchtet, tobt nur wenige Kilometer weiter ein Sturm. Immer wieder reißen Wolken auf, geben dramatische Bergpanoramen frei und hüllen sie im nächsten Moment wieder in Nebel. Dieses Spiel aus Licht, Wind und Wolken – einfach faszinierend.
Am nächsten Tag zieht es mich in die Höhe: Ich wandere hinauf zum Glaciar Martial, einem kleinen Gletscher oberhalb der Stadt. Der Weg ist einfach, aber lohnend – spätestens beim Blick hinunter auf Ushuaia und den weiten Beagle-Kanal. Die Stadt wirkt von hier oben wie ein letztes gallisches Dorf, das sich am Ende der Welt an die Küste klammert.
Als das Wetter einmal mehr umschlägt, wechsle ich ins Trockene – ins Museo Marítimo y del Presidio, das im alten Gefängnis der Stadt untergebracht ist. Früher galt Ushuaia als idealer Ort für eine Strafkolonie – weit weg von allem, schwer erreichbar, mit viel Platz zum Arbeiten. Die Zellen erzählen düstere Geschichten von einstigen Häftlingen und unfreiwilligen Stadtgründern. Auch die Rolle Ushuaias als Tor zur Antarktis wird hier ausführlich beleuchtet – mit teils dramatischen Geschichten über Forschungsschiffe, Eisberge und gescheiterte Expeditionen.
Nach ein paar intensiven Tagen am „Fin del Mundo“ spüre ich: Patagonien war wild, windig, unvergesslich – aber jetzt ist es Zeit für das Kontrastprogramm. Mit dem Flugzeug geht es weiter über Buenos Aires nach Iguazú – zu Sonne, Dschungel und donnernden Wasserfällen.
Das war Patagonien!
Von Seen und Vulkanen rund um San Martín und Bariloche, über das Gletschereis von El Calafate bis zu den Granittürmen der Torres del Paine – Patagonien zeigt sich wild, rau und wunderschön. In Punta Arenas und Ushuaia dann das große Finale: Wind, Weite und das Gefühl, ganz unten auf der Weltkarte angekommen zu sein. Und trotzdem nicht am Ende. Es geht weiter über die Iguazúwasserfälle nach Bolivien. Schön weiterlesen!
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